Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Ich fühle mich nicht mehr sicher“

Die Gymnasiast­in Yaren Demircan spricht über ihr Leben in der Türkei

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RAVENSBURG - Seit 1994 findet jedes Jahr ein Schüleraus­tausch zwischen Schülern des Albert-EinsteinGy­mnasiums Ravensburg und dem Gymnasium Ulubatli Hasan Anadolu Lisesi in Bursa, Türkei, statt. Diese Gelegenhei­t nutzte Vivian Votu, um Yaren Demircan nach ihrer jungen Sicht auf die Europäisch­e Union (EU) zu befragen. Es sind politisch unruhige Zeiten in der Türkei, deswegen möchte Yaren ihren richtigen Namen und ihr Foto nicht in der Zeitung sehen. Dolmetsche­r Ali Güclü hat das Gespräch übersetzt.

Was weißt du über die Europäisch­e Union? Die Mitgliedss­taaten sind wie Brüder füreinande­r, man braucht kein Visum, es gibt keine Grenzen und außerdem keinen Krieg zwischen den Ländern. Das ist bei der Türkei nicht so, denn wir haben schlechte Beziehunge­n zu den Nachbarlän­dern.

Mit welchen drei Adjektiven würdest du die EU beschreibe­n? Sicher, multikultu­rell und tolerant.

Denkst du, ein Beitritt der Türkei zur EU wäre eine gute Sache? Ich denke, für die Türkei wäre die EU viel besser, denn es gibt viele Vorteile, wie zum Beispiel, dass man kein Visum braucht und innerhalb der EU ohne Probleme reisen kann. Nachteile fallen mir gerade keine ein.

Wird die EU in den Medien oder in der Schule behandelt? Wir lernen schon Dinge über Europa, aber die EU wird nicht behandelt und besprochen. Diskussion­en darüber werden vermieden, denn sonst besteht die Gefahr, dass sich Gruppierun­gen mit unterschie­dlichen Meinungen bilden. Aus Respekt zu einander redet man nicht darüber.

Wie wird über die EU und Deutschlan­d in den Medien gesprochen? Es wird gesagt, dass die EU die Türkei und ihre Kultur verändern will, man spricht von Verwestlic­hung. Es gibt aber nicht nur negative Schlagzeil­en. Das Schulsyste­m wird positiv erwähnt.

Machst du dir Sorgen über die Beziehunge­n zwischen der Türkei und der EU? Ja, ich mache mir schon Sorgen. Wenn die Türkei in der EU wäre, hätten ich oder allgemein wir Türken mehr Chancen, beispielsw­eise im Bildungsse­ktor, dadurch hätten wir bessere Chancen, uns weiterzu- entwickeln. Außerdem hat Deutschlan­d in der Welt viel zu sagen, es wäre also gut für die Türkei, wenn die Türkei Beziehunge­n mit anderen, einflussre­icheren Ländern hätte, denke ich.

Wie stehst du persönlich zu einem Beitritt der Türkei zur Europäisch­en Union? Ich mag die Türkei auch so, aber die EU mag ich auch. Also warum nicht? Meiner Meinung nach sollte die Türkei ein EU-Mitglied sein.

Warum denkst du, dass viele beziehungs­weise die meisten DeutschTür­ken bei dem Referendum über den Umbau des Landes zu einem Präsidials­ystem im April 2017 mit „evet“(Ja) für Erdogan gestimmt haben? Ich verstehe nicht, warum Menschen, egal ob in der Türkei oder in Deutschlan­d, für Erdogan gestimmt haben. Er ist rassistisc­h und diskrimini­erend. Er mag diejenigen nicht, die ihn nicht mögen und nicht wie er denken. Er akzeptiert andere Ideologien nicht und das ist nicht gut für die Türkei, denn er macht, was er will. Vielleicht sagt dir „Gezi Parkı“etwas. Er wollte Waldfläche zerstören, um eine Shopping Mall zu bauen. Viele Menschen demonstrie­rten und wurden daraufhin gewaltsam vertrieben, dabei kamen sogar einige Menschen ums Leben. In der Türkei fühle ich mich nicht mehr sicher, weil ich nicht wie Erdogan über gewisse Dinge denke.

Wie sollte ein Präsident deiner Meinung nach sein? Ich denke nicht wie Erdogan und deshalb akzeptiert er mich nicht, aber ein Präsident sollte sein ganzes Volk lieben, weil er alle in der Türkei, als Teil seines Volkes, verteidige­n sollte. Erdogan hetzt die Menschen gegeneinan­der auf und spaltet so die Gesellscha­ft.

 ?? FOTO: AFP ?? Im Juni 2013 ging Präsident Recep Tayyip Erdogan gewaltsam gegen Demonstran­ten in der Nähe des Gezi-Parks vor.
FOTO: AFP Im Juni 2013 ging Präsident Recep Tayyip Erdogan gewaltsam gegen Demonstran­ten in der Nähe des Gezi-Parks vor.

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