Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Ich vermisse die jungen Menschen“
Pfarrer Marco aus Venezuela spricht über sein Land, die Krise, den Sozialismus, die Kirche und Baienfurt
BAIENFURT - Alle nennen ihn einfach nur Pfarrer Marco. Aber eigentlich ist er nicht Pfarrer, sondern Pfarrvikar und heißt mit vollem Namen Marco Rodriguez Rivas. Der 52jährige Venezolaner ist seit drei Jahren in der Gemeinde Baienfurt und blickt mit Sorgen auf seine Heimat Venezuela. Derzeit überziehen Unruhen und Proteste das südamerikanische Land. Er selbst musste erleben, wie das Land unter der Regierung von Staatschef Nicolás Maduro leidet. Bevor Pfarrer Marco das Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“zugesagt hat, wollte er bei der Diözese nachfragen, ob er mit der Presse sprechen darf. Denn in Venezuela müssen Pfarrer genau das tun, weil sie im schlimmsten Falle Schwierigkeiten befürchten müssen.
Pfarrer Marco, wie geht es Ihnen, wenn Sie sehen, was in Ihrem Heimatland vor sich geht?
Ich habe große Angst um mein Land, um die Menschen. Eine große Traurigkeit erfüllt mich, wenn ich dorthin blicke. Ich bin 28 Jahre lang Priester, ich bin 52 Jahre alt und habe beobachtet, wie das Land langsam zerstört wird. Es ist so schade, dass es immer schlechter wird. Und ich befürchte, dass wir noch nicht am Ende sind, dass es noch schlimmer wird. Es blutet mir das Herz, wenn ich sehe, wie Polizisten unsere Schülerinnen und Schüler vom Gymnasium töten. Ich kann doch nicht meine Waffe gegen meine Brüder und Schwestern richten! Wenn man an diesem Punkt ist, heißt das, dass wir am Ende sind.
Warum sind Sie nach Deutschland gekommen? Und wie sind Sie letztlich in Baienfurt gelandet?
Ich habe in Venezuela Deutsch gelernt. Meine Deutschlehrerin Christine Hofmeister kam aus BadenWürttemberg und hat mir ein Bild von ihrer Kirche in Baienfurt gezeigt und mir immer gesagt: Komm nach Deutschland, wir haben hier Priestermangel. Dann war ich drei Monate auf Deutschlandreise und mir hat es so gut gefallen. Meine Mutter ist 86 Jahre alt und schwer krank. In Venezuela gibt es aber keine Medikamente für sie. Ich habe lang überlegt, ob ich wirklich herkommen soll, weil Deutschland weit weg ist. Dann habe ich mich doch dazu entschlossen, mit ihr in Baienfurt zu leben.
Venezuela befindet sich seit Jahren in einer Krise. Das Land ist heruntergewirtschaftet. Bilder von hungernden Kindern, leeren Supermarktregalen und leeren Apotheken gehen um die Welt, weil es quasi keine Lebensmittelproduktion mehr gibt. Bilder von Straßenschlachten und Gewaltexzessen prägen die Nachrichten. Seit Monaten tobt ein Machtkampf zwischen Regierung und Opposition. Mindestens 125 Menschen wurden laut Nachrichtenagentur AFP bei den Unruhen seit Anfang April getötet. Im Jahr 1999 hat Hugo Chávez die Macht im Land als 62. Staatspräsident übernommen und rief den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“aus – den Chavismus. Nach seinem Tod 2013 übernahm sein Vize Nicolás Maduro. Seither galoppiert die Inflation. Ein Jahr später kam Pfarrer Marco nach Baienfurt. Jetzt ist er drei Jahre im Schussental.
Mit Venezuela verbindet man hier Sozialismus ...
... wenn ihr hier von Sozialismus sprecht, meint ihr was anders, als wir in Venezuela haben. Unter Präsident Chávez war klar, was er meinte, wenn er von Sozialismus sprach, wohin er möchte. Aber heute hat die Regierung eine Art zu regieren, die wir nicht verstehen. Das ist nicht Sozialismus, das ist eine Diktatur. Das hat nichts mit moderner Demokratie zu tun.
Aber unter Hugo Chávez gab es ja auch keine freie Demokratie.
Ja, das stimmt. Aber Chávez hat viele gute Dinge für das Volk getan, vor allem für die armen Menschen im Land. Das müssen wir einfach anerkennen.
Können Sie ein Beispiel geben? Vielleicht aus Ihrer Heimatstadt.
Er hat bei uns ein neues Krankenhaus gebaut. Er hat für den Ausbau der Infrastruktur gesorgt und Straßen gebaut. Gerade der Bundesstaat Yaracuy ist sehr arm. Aber natürlich hatte Chávez auch schlechte Seiten. Er regierte sehr autokratisch und es gab keine Meinungsfreiheit.
Pfarrer Marco wurde 1964 in der venezolanischen Hauptstadt Caracas geboren und lebte dort bis zu seinem elften Lebensjahr. Dann ging er auf den Hof seiner Eltern in der Nähe von San Felipe, eine 86 000-Einwohnerstadt, etwa fünf Stunden östlich von Caracas gelegen. Seine Eltern betrieben dort eine Obstund Gemüsefarm. Auf zehn Hektar Land bauten sie Orangen, Bananen, Avocados und Kokosnüsse an, die sie in der Hauptstadt verkauften. Pfarrer Marcos Augen strahlen, wenn er von dort erzählt. In der Region werde kein Öl gebohrt, mit dem das Land fast ausschließlich sein Geld verdient und mancherorts für Umweltkatastrophen verantwortlich ist. Rund um San Felipe gebe es nur Natur. Im Mai legen die Papageien ihre Eier, Affen springen von Baum zu Baum. Im Juni sind die Orangen reif. Aber wie im ganzen Land ist auch dort die Arbeitslosigkeit hoch. Die Menschen sind arm. Pfarrer Marco berichtet, dass Arbeiter im Monat sieben Euro verdienen. Davon kann man nicht leben. Nicht nur deshalb spielt die Kirche in der Gesellschaft eine große Rolle.
Wie wurden Sie Pfarrer?
Im Alter von 14 Jahren ging ich auf das Priesterseminar in Caracas. Mit 24 Jahren war ich bereits Pfarrer. Außerdem habe ich die Päpstliche Universität Gregoriana in Rom besucht. Mein Vater war ein sehr gläubiger und guter Katholik. Er hat mich sehr geprägt.
Sozialismus und Kirche – wie funktioniert das? Sie haben es als Priester erlebt.
Die Regierung von Chávez hatte immer ein gespanntes Verhältnis zur Kirche. Die Kirche hat immer wieder gegen Aktionen von Chávez protestiert. Aber es gab einen Kontakt zwischen der Regierung und der Kirche. Heute sind alle Brücken zwischen Kirche und Regierung gebrochen.
Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie als Pfarrer gemacht, bevor Sie das Land verlassen haben?
Ich hatte als Priester Probleme mit der Regierung. Sie kontrollieren alles: Unsere Predigten wurden genau verfolgt, unsere Telefone überwacht. Auch dieses Interview hier werden sie lesen. Das war unter Chávez so und ist auch unter Maduro so. Als Priester ist man in Venezuela nicht frei wie hier in Deutschland. Wir müssen immer aufpassen, was wir sagen und wohin wir gehen und mit wem wir uns treffen. Auf der anderen Seite wird die soziale Arbeit der Kirche – zum Beispiel die der Caritas – in Venezuela anerkannt. Ich selbst bin nach meiner ersten Reise in Deutschland von der Polizei angerufen worden. Sie haben mich gefragt, was ich in Deutschland mache und wer die Reise bezahlt hat. Sie haben mich gefragt, wer die Leute sind, die ich hier getroffen habe.
Sie kannten die Namen der Menschen hier in Baienfurt?
Sie wussten alles. Damit habe ich nicht gerechnet. Zu Chávez’ Zeiten habe ich in Rom studiert. Niemand hat mich damals gefragt. Pfarrer Marco sagt, er könne nicht mehr zurückgehen. Er befürchtet, direkt am Flughafen verhaftet zu werden und seinen Pass zu verlieren. Er habe von Menschen gehört, denen es so ergangen sei. Menschen, die ins Ausland gehen, würden als Verräter gesehen, sagt er. Gerade die Katholische Kirche gehört zu den Kritikern der Regierung. Momentan hat Pfarrer Marco einen Aufenthaltstitel und wünscht sich, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Außerdem, so erzählt er, habe er die Farm seiner Eltern samt Haus verkaufen müssen. „Du bist Pfarrer und brauchst keinen Bauernhof. Der gehört jetzt dem Volk“, hätten sie gesagt. In Baienfurt fühlt er sich wohl. Pfarrer Erwin Lang sei wie ein Vater für ihn. Er liebt die „blaue Kirche“, wie er die Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt liebevoll nennt. Er habe schon viele Kirchen gesehen, aber noch nie eine solche. Sie sei besonders. Wenn es ihm schlecht gehe, setze er sich hier in die Bank, um zu beten. Hier könne er Frieden finden. In Baienfurt hält er die Heilige Messe oder wird zu Beerdigungen gerufen. Er ist dort, wo er eben gebraucht wird. Was ist der Unterschied zwischen Gottesdiensten in Venezuela und Gottesdiensten hier?
Die Kirche in Deutschland kommt mir vor wie ein anderer Planet. Die deutsche Kirche ist sehr gut organisiert, in Venezuela wird viel improvisiert. Unsere Kirchen sind voll mit jungen Menschen, das vermisse ich hier. Ich vermisse auch die jungen Leute aus meiner Gemeinde in Venezuela. Wir waren immer zusammen am Strand, wir spielten Basketball. Hier gibt es nur Fußball. In unseren Kirchen wird mehr und andere Musik gespielt. Es wird Gitarre gespielt und getrommelt.
Hier gibt es ja auch die Ministranten und die Katholische Junge Gemeinde. Meinen Sie, die Kirche in Venezuela ist lebendiger?
Nein, Baienfurt ist eine sehr lebendige Gemeinde. Aber der Lebensrhythmus hier und dort ist ganz anders. Wir haben in Venezuela eine ganz andere pastorale Organisation. Dort gibt es Pastorale für Familien, für Ehe, für Kranke. Aber es geht dabei nicht nur um die Spende der Sakramente. Die Menschen kommen in die Gemeinde, um zu arbeiten und zu dienen. In Deutschland hat jeder eine eigene Arbeit, in Venezuela nicht. Wir essen gemeinsam. Wir sind immer zusammen. Vielleicht suchen wir in Venezuela den Zusammenhalt und Schutz in der Kirche, weil es außerhalb so viel Gefahr gibt.
Warum sind in Venezuela mehr junge Menschen in der Kirche?
Ich denke, das ist unsere lateinamerikanische Art zu leben und zu sein. Wir tanzen, auch wir Priester tanzen Merengue und Salsa mit den Menschen – auch mein dortiger Bischof. Wenn bei uns jemand zum ersten Mal in die Kirche kommt, umarmen wir ihn. Hier in Deutschland ist das nicht so. Außerdem müssen die Ministranten in Venezuela immer arbeiten. Sie müssen Essen an die armen Menschen verteilen oder die Kirche streichen.
Das heißt, die Kirche hat eine viel größere gesellschaftliche Rolle als in Deutschland?
In der Kirche kommen die Menschen zusammen, egal ob aus dem Regierungslager oder aus der Opposition. In unserer Gemeinde sprechen wir nicht über Politik.
Baienfurt ist ihm ans Herz gewachsen, aber seine Heimat mit ihren Problemen hat er nicht vergessen. Nach dem Interview steigt Pfarrer Marco vor der „blauen Kirche“ins Auto. In der Hand hat er einen Briefumschlag mit 250 Euro, die er von Ravensburg in seine Heimat transferieren will. Das Geld hat er in Baienfurt gesammelt. Damit unterstützt er einen jungen Mann, der Priester werden will. „Hier ist das nicht viel Geld, daheim aber ein Vermögen“, sagt er.
Danke für die Zeit, Pfarrer Marco.
Danke Ihnen. Bitte korrigieren Sie mein Deutsch. In zehn Jahren können wir dann das Interview auf Schwäbisch führen.