Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Flüchtlingskrise wird zum Wahlkampfthema
Kanzlerin Merkel will Libyen unterstützen – Kritik von Herausforderer Martin Schulz
BERLIN - Einen „Wahlkampftourismus“hatte CDU-Generalsekretär Peter Tauber dem SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz vorgeworfen, als der vor wenigen Wochen nach Italien gereist war, um die Flüchtlingspolitik zu thematisieren. Jetzt geht Kanzlerin Angela Merkel (CDU) selbst in die Offensive, reist zum Migrationsgipfel nach Paris und kündigt Unterstützung für Libyen an, um Schleppern das Handwerk zu legen. Keine vier Wochen vor der Bundestagswahl ist das Flüchtlingsthema damit zurück auf der Agenda.
Die Europäer „statten die libysche Küstenwache mit den notwendigen Geräten aus, damit sie ihre Arbeit tun kann“, sagte Merkel der „Welt am Sonntag“. Die Libyer müssten „befähigt werden, die eigene Küste zu schützen“. Sie machte eine Einschränkung: „Dabei legen wir natürlich größten Wert darauf, dass sich die libysche Küstenwache an die Gebote des internationalen Rechts hält, sowohl im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten als auch mit Nichtregierungsorganisationen“.
Auch in ihrem wöchentlichen Podcast griff die Kanzlerin das Thema auf. Die illegale Migration nach Europa müsse Schritt für Schritt reduziert werden, sagte sie. Merkel will nach eigenen Worten verhindern, dass sich eine Situation wie auf dem Höhepunkt der Krise vor zwei Jahren wiederholt.
„Land unter“in Italien
Herausforderer Martin Schulz attackiert die Kanzlerin scharf: Es sei „leider absehbar“gewesen, dass Italien mit dem Flüchtlingsstrom nicht allein zurechtkommen werde. „An dieser für Deutschland und Europa immens wichtigen Thematik wird die Amtsmüdigkeit der Bundeskanzlerin überdeutlich“, sagte Schulz am Sonntag der „Schwäbischen Zeitung“. In Italien herrsche „Land unter, da muss geholfen werden“.
Der SPD-Chef ist empört: „Als ich vor einigen Wochen gesagt habe, dass das Thema Flüchtlinge mitnichten gelöst ist, bin ich scharf attackiert worden. Man hat sich darüber echauffiert, wie man dieses Thema in den Wahlkampf ziehen könne. Heute fährt Frau Merkel zum Gipfel nach Paris. Der ist nichts anderes als eine große Inszenierung.“Er drängt die Kanzlerin, in Paris Unterstützung für die Verteilung von Flüchtlingen in Europa auf Grundlage der beschlossenen Kriterien einzufordern: „Aber ich sage Ihnen voraus: Das wird sie nicht tun. Sie will keinen Streit.“
Das Flüchtlingsthema ist für die Kanzlerin heikel, war sie doch im Sommer 2015 dafür verantwortlich, dass sich Hunderttausende auf den Weg nach Deutschland machten. Sie habe keine Fehler gemacht, sagte sie in einem Interview: „Alle wichtigen Entscheidungen des Jahres 2015 würde ich wieder so treffen“. Deutschland habe in einer sehr schwierigen Situation „human und richtig gehandelt“, stellte die Regierungschefin klar, fügte aber hinzu: „Es war eine Notsituation, die wir alle, auch die Zuflucht suchenden Menschen, nie mehr wieder so erleben sollten.“
Kritik an der Kanzlerin kommt auch von der FDP. „Auf der Mittelmeerroute hat Merkel nichts vorzuweisen“, sagte am Sonntag Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des EU-Parlaments. Derzeit versuchten vor allem Italien und Libyen im Alleingang, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Vorwürfen gegen die libysche Küstenwache im Umgang mit Hilfsorganisationen müsse nachgegangen werden. „Allerdings würde man sich den gleichen Ehrgeiz der Kanzlerin bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise wünschen“, erklärte der FDP-Politiker.
Doppelte Abschirmung
Tatsächlich ist die Zahl der Menschen, die von Libyen über das Mittelmeer fliehen, in den vergangenen Wochen stark zurückgegangen. Als Grund wird ein härteres Durchgreifen der libyschen Küstenwache vermutet, die eine militärische Sperrzone eingerichtet hat. Die Organisation Pro Asyl warnte Merkel und die anderen Teilnehmer des Pariser Migrationsgipfels davor, „einen doppelten militärischen Abschirmring gegen Flüchtlinge“aufzubauen. Wenn sich die EU abschotte, entziehe sie sich „ihrer Verantwortung für den Flüchtlingsschutz“.
Die Kanzlerin verteidigte ihren Ansatz, die Migration „Schritt für Schritt“zu reduzieren. Dazu sei es auch notwendig, Schleusern alternative Einnahmequellen zu bieten, „ansonsten werden sie sich nicht davon abbringen lassen“. Und es gehe darum, Migranten „gegebenenfalls auch legale Möglichkeiten zu eröffnen, Arbeitsmöglichkeiten in Europa zu bekommen“.
Eine Forderung, die auch Martin Schulz erhebt: „Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. So könnte jeder bei unseren Botschaften und Konsulaten die Einreise nach Europa beantragen. Das wäre eine Chance, aber keine Garantie“, sagte der SPDChef am Sonntag. „Wir drängen alle ins Asylverfahren. Aber die meisten wollen dauerhafte Perspektiven statt temporären Schutz. Dazu brauchen wir ein Verfahren mit klaren Kriterien und Quoten.“