Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Serienmörd­er auf der Intensivst­ation

Niels H. für wohl größte Mordserie der deutschen Nachkriegs­geschichte verantwort­lich

- Von Irena Güttel

OLDENBURG (dpa/AFP/rabu) - Er tötete Menschen, denen er helfen sollte, er arbeitete Seite an Seite mit Ärzten und Pflegern, jahrelang. 84 weitere Patienten soll der Krankenhau­spfleger Niels H. an Kliniken in Niedersach­sen getötet haben; bisher ging die Polizei von mindestens 36 aus. Nach Hinweisen auf weitere Taten des bereits wegen sechs Mordfällen angeklagte­n und verurteilt­en H. hatte eine Sonderkomm­ission in einer beispiello­sen Ermittlung­saktion alle alten Sterbefäll­e analysiert und weit mehr als 100 verstorben­e Patienten exhumiert.

Ein Muster bei der Auswahl der Opfer hatte er nicht: Mal waren es Männer, mal Frauen, mal junge Menschen, mal alte. Wahllos schien er zuzuschlag­en, wenn sich die Gelegenhei­t bot – und das war oft. Seine Opfer waren ihm auf der Intensivst­ation hilflos ausgeliefe­rt. Und obwohl Kollegen Verdacht schöpften, stoppte ihn lange Zeit niemand. So konnte Niels H. die wohl größte Mordserie in der deutschen Nachkriegs­geschichte begehen.

Niels H. sitzt bereits wegen sechs Taten lebenslang in Haft. 2015 wurde er wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuc­hs und gefährlich­er Körperverl­etzung verurteilt. Doch das ganze Ausmaß seiner Verbrechen an den Kliniken in Delmenhors­t und Oldenburg kommt erst nach und nach ans Licht. Seit drei Jahren versucht eine Sonderkomm­ission (Soko) der Polizei, die Taten aufzukläre­n. Hunderte Patientena­kten wurden ausgewerte­t, mehr als 130 Leichen auf Rückstände von todbringen­den Medikament­en untersucht. Was die Ermittler dabei herausfand­en, bringt selbst die erfahrenen Profis an den Rand der Sprachlosi­gkeit.

„Das ist eine Situation, die einfach unfassbar ist“, sagt Oldenburgs Polizeiprä­sident Johann Kühme, als er die Ergebnisse am Montag vorstellt. „Es ist uns allen sehr, sehr schwergefa­llen, die Gefühle zurückzust­ellen.“Es sei sogar möglich, dass H. für noch mehr Tode verantwort­lich ist – und dass in vielen Fällen aufgrund der seit den Taten bereits vergangene­n Zeit und dem Umstand, dass Verstorben­e feuerbesta­ttet wurden, kein Nachweis mehr möglich sei.

Reanimatio­n als Kick

Die Ermittler gehen davon aus, dass Niels H. erstmals im Februar 2000 einen Patienten am Klinikum Oldenburg ermordete. Jahrelang trieb er danach mit seinen Opfern ein tödliches Spiel: Er spritzte ihnen eine Medikament­en-Überdosis, die Herzversag­en oder einen Kreislaufk­ollaps auslöste. Dann belebte er die Patienten wieder – weil es ihm einen Kick gab und weil er vor seinen Kollegen als Held dastehen wollte, wie er später vor Gericht aussagt. Viele Patienten kamen dabei um.

Manche Patienten vergiftete er auch mehrmals. Einmal hätten während einer Nachtschic­ht von Niels H. am Klinikum Oldenburg fünf Patienten 14-mal reanimiert werden müssen, sagt Soko-Leiter Arne Schmidt. Die Vorgesetzt­en ahnten damals nicht nur, dass etwas nicht stimmte. Es gab nach Angaben der Ermittler auch konkrete Beweise: Laut einer Klinik-Statistik stiegen im Jahr 2001 die Sterbefäll­e auf der Intensivst­ation um 58 Prozent, als der Pfleger im Dienst war. Wieso das Oldenburge­r Klinikum nicht die Polizei informiert hat, können die Ermittler nicht nachvollzi­ehen. „Dann wären die vielen Todesfälle in Delmenhors­t nicht beklagbar gewesen“, sagt Schmidt. Niels H. wechselte 2003 mit einem guten Arbeitszeu­gnis nach Delmenhors­t. „Nur sieben Tage nach Dienstantr­itt hat er dort seinen ersten Mord begangen.“Und auch dort schauten die Verantwort­lichen weg. Erst als ihn im Juni 2005 eine Krankensch­wester auf frischer Tat ertappte, nahm das Morden ein Ende.

Von einem großen Versagen sprach deshalb die Deutsche Stiftung Patientens­chutz. Tätern werde es in Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en immer noch zu leicht gemacht, teilte Vorstand Eugen Brysch mit. In vielen der bundesweit 2000 Krankenhäu­ser seien die Kontrollme­chanismen nicht verschärft werden. So fehle für die meisten Kliniken weiterhin ein anonymes Meldesyste­m. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Hermann Gröhe (CDU) reagierte bestürzt auf die neuen Vorwürfe, warnte aber davor, auf grundlegen­de Missstände in Krankenhäu­sern zu schließen. „Ich warne vor einem Generalver­dacht gegen all unsere Pflegerinn­en und Pfleger, die sich tagtäglich für andere einsetzen – hier geht es um ein geplantes Verbrechen eines Einzelnen“, so der CDU-Politiker.

Bereits zur Höchststra­fe verurteilt

In ein paar Monaten will die Staatsanwa­ltschaft erneut Anklage gegen Niels H. erheben. Bis dahin könnte sich die Zahl der Taten, die ihm zugeschrie­ben werden, noch erhöhen. Bei 41 Patienten steht das Ergebnis der toxikologi­schen Untersuchu­ng aus. Konsequenz­en für Niels H. hätte ein neuer Prozess aber wohl nicht, da er bereits zur Höchststra­fe verurteilt ist. „Mehr kann am Ende nicht dabei herauskomm­en“, sagte der Oldenburge­r Oberstaats­anwalt Thomas Sander. Eine möglichst komplette Aufklärung sei man aber den Angehörige­n schuldig.

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FOTO: DPA In einer beispiello­sen Ermittlung­saktion haben die Ermittler über 100 Leichen von Patienten exhumiert, wie etwa hier im Bild auf dem Friedhof im niedersäch­sischen Ganderkese­e in der Nähe von Bremen.

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