Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Erbkrankheiten und andere Wehwehchen
Meine Mutter besaß ein dickes Buch mit 736 Seiten, das sie immer dann zu konsultieren pflegte, wenn es einem aus der Familie schlecht ging. „Das neue große Gesundheitsbuch“(erschie- nen 1965) beschrieb dabei für Laien halbwegs verständlich die furchtbarsten Krankheiten und ihre Symptome. Es wurde schnell auch zu meiner Lieblingslektüre, denn ich war ein kränkliches Kind, hasste Sport und frische Luft und hatte viel Zeit zum Lesen. Schon damals war mir klar, dass ich bei Halsschmerzen, Ohrenschmerzen oder Schluckbeschwerden möglicherweise nicht bloß eine eitrige Angina ausfocht, sondern Rachenkrebs. Danke an dieser Stelle, lieber Dr. Dr. Gerhard Venzmer, für meine medizinische Früherziehung.
Heute gibt es das Internet, und die Möglichkeiten für Menschen wie mich sind sensationell! Netdoktor, Onmeda und den Symptomat habe ich längst unter meinen Favoriten im Browser abgespeichert. Dort gibt es für wirklich jedes Symptom mindestens eine potenziell tödliche Krankheit, die passen könnte. Manchmal auch mehrere, was die Auswahl leider etwas erschwert.
Auch die Kollegen kommen in den Genuss meiner präzisen Diagnosen, wenn sie zum Beispiel Kopfschmerzen haben – „Hast du auch eine verschwommene Sicht, Geruchshalluzinationen, Gleichgewichtsstörungen oder Persönlichkeitsveränderungen an dir wahrgenommen? Dann könnte es ein Gehirntumor sein! Ich würde an deiner Stelle sofort zum Arzt gehen!!! Nur um ganz sicher zu sein !!!!!!!!! “
Mit meiner neuesten unheimlichen Krankheit – seltsamen Stichen im Oberschenkel – konsultierte ich nun selbst einen Mediziner meines Vertrauens und überlegte auf der Autofahrt, wen ich alles in meinem Testament bedenken sollte. Die nörgelige Nichte? Oder doch lieber Greenpeace? Ich war mir relativ sicher, dass es sich um eine tiefe Venenthrombose handeln müsse, die kurz davor stand, sich zu lösen, was in etwa 30 Prozent der Fälle zu einer tödlichen Lungenembolie führen kann. Ja bleibt denn da überhaupt noch Zeit, ein Testament aufzusetzen?
Puh. Wie Sie sehen, kann ich diese Zeilen noch schreiben. Weil es sich diesmal nur um eine harmlose Venenentzündung gehandelt hat, die leicht zu behandeln ist. Ich werde es mir am Wochenende so richtig gut gehen lassen und mich meines Lebens erfreuen. Denn wer weiß, welche heimtückische Krankheit außer der von meiner Mutter ererbten Hypochondrie noch in meinem Körper lauert?
a.vincenz@schwaebische.de