Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Das ferne Sehnsuchts­land

Ein Autor und ein Bibliothek­ar wollen die Volksgrupp­e der Sathmarer Schwaben wieder enger zusammenfü­hren

- Von Uwe Jauß

WANGEN - Der Blick von Christine Martins Esszimmerf­enster aus ist grandios: Über das Tal der Unteren Argen bei Wangen geht er über das württember­gische Allgäu hinweg. Am Horizont stehen Alpenberge, die höchsten davon schon mit Schnee überzucker­t. Auch das Haus macht etwas her und liegt schön im Grünen. Eigentlich ein Traum. „Toll ist es schon“, meint die 57-Jährige. Insgeheim geht ihr aber ein anderer Ort nicht aus dem Kopf: die ferne Heimat der Vorfahren: „Es treibt mich schon um, ob es nicht eine Art Rückkehr dorthin gibt.“Dies wäre eine zumindest zeitweise Übersiedlu­ng in die nordwestli­chste Ecke von Rumänien – einer Region, in der nach hiesigem, mitteleuro­päischem Verständni­s nicht nur irgendwann die Uhr stehen geblieben ist, sondern sich auch Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Dort liegt das Sathmarlan­d, ein historisch­es Siedlungsg­ebiet deutscher Auswandere­r. Sathmarer Schwaben werden sie genannt. Ihre ursprüngli­che Herkunft lässt sich in diesem Fall sogar größtentei­ls an einer eng umgrenzten Region festmachen: Oberschwab­en. Weshalb der Kreis Biberach 1962 auch die Patenschaf­t über die entspreche­nde Landsmanns­chaft übernommen hat. Im Grunde genommen ist die Geschichte der Volksgrupp­e aber weitgehend vergessen – wie so oft, wenn es um jene Deutschen oder Deutschspr­achigen geht, die sich in den vielen Jahrhunder­ten seit dem Hochmittel­alter auf den Weg nach Osten gemacht haben. Ihre Hoffnung war die aller Auswandere­r: ein besseres Leben zu finden.

Eine Verknüpfun­g fehlt

Aberdutzen­de isolierte Siedlungsr­äume entstanden: in den Karpaten, in Siebenbürg­en, in der Ukraine, in Bessarabie­n – ja selbst an den Ausläufern des Kaukasus. Vom Menschensc­hlag her dürften heutzutage vielleicht noch die Siebenbürg­er Sachsen geläufig sein. Ihre Heimat ist in der Gegenwart ein Teil Rumäniens – wie jene der Sathmarer Schwaben. Im Gegensatz zu den Sachsen fehlt ihnen bisher ein brauchbare­s Netz, das Menschen, Kultur und Geschichte dieser Volksgrupp­e verknüpft. Dies soll aber jetzt anders werden. Große Hoffnung wird auf eine Veranstalt­ung am Samstag in Biberach gesetzt. Sie steht unter dem Leitspruch: „Sathmarer Spuren – Auswanderu­ng und Heimkehr, auf der Suche nach Vorfahren und Verwandte“.

Initiatore­n sind zwei wohl entfernt miteinande­r verwandte Herren namens Holzberger. Der jüngere trägt den Vornamen Richard, der ältere heißt Rudi. Er arbeitet als Journalist und Autor und ist inzwischen 64 Jahre alt. „40 Jahre lang habe ich es praktisch im Hinterkopf gehabt, mich auf die Spuren meiner Vorfahren im Sathmarlan­d zu begeben“, berichtet der im oberschwäb­ischen Wolpertswe­nde lebende Rudi Holzberger. Die alte Heimat war ihm nur aus Erzählunge­n oder von Bildern her bekannt. Erst heuer schaffte er es, sich auf die Reise zu seinen Wurzeln zu begeben. Er fand Verwandte im Sathmarlan­d. Sogar das Elternhaus im Dorf Terem gab es noch – inklusive der Erinnerung ganz alter, vor Ort gebliebene­r Leute an seinen längst verstorben­en Vater.

Wie Rudi Holzberger sagt, sei ihm das Thema seiner familiären Ursprünge aber bereits in den vergangene­n Jahren immer wichtiger geworden. Bei Internetre­cherchen habe er dann Texte des anderen Holzberger­s gefunden, vom erwähnten Richard Holzberger. Der 39-Jährige arbeitet in München als Bibliothek­ar in der Staatsbibl­iothek und ist für den rumänische­n und ungarische­n Bereich zuständig. Anders als der andere Holzberger hat er noch in Sathmarlan­d gelebt – und zwar direkt in der Stadt Sathmar. „Bis 1990“, berichtet der Bibliothek­ar. Dann ist er mit seinen Eltern als Spätaussie­dler nach Deutschlan­d gekommen. Irgendwann hat es ihn im Berufslebe­n dazu gedrängt, alles Greifbare zum Thema Sathmarer Schwaben zusammenzu­tragen: „Ich wollte wissen, wer ich eigentlich bin.“

Jedenfalls hatte sich mit den beiden Holzberger­s ein Duo zusammenge­funden, das die Spurensuch­e energisch vorantreib­en will. „Wir wollen die Welt der Sathmarer Schwaben wieder zusammenbr­ingen“, betonen die beiden. Sie haben dabei ein weites Feld zu beackern. Zuerst betrifft dies Oberschwab­en im 18. Jahrhunder­t, seinerzeit eine vielfach ärmliche Gegend. Missernten, Viehseuche­n und Heeresdurc­hzüge taten ein Übriges. Hinzu kam das bäuerliche Erbrecht: Einer übernahm den Hof, die Geschwiste­r wurden mittellose Knechte oder Mägde. Wodurch sich ein Potenzial an möglichen Auswandere­rn ergab.

Rund 1400 Kilometer weiter östlich im Sathmarlan­d sah hingegen die Lage zu Beginn des 18. Jahrhunder­ts folgenderm­aßen aus: Auseinande­rsetzungen zwischen kaiserlich-habsburgis­chen und osmanische­n Truppen hatten zu starken Belastunge­n geführt. Die Habsburger gewannen. Gegen ihre Herrschaft richtete sich der erst 1711 beigelegte Kuruzzenau­fstand, durch den es zu weiteren Verwüstung­en gekommen war. Die örtliche Fürstendyn­astie der Károlyis suchte daraufhin Siedler für den Wiederaufb­au. Sie fand die Menschen in erster Linie im Oberschwäb­ischen. 1810 wurde dann als letztes schwäbisch­es Dorf Terem gegründet. Daraufhin ebbte die Zuwanderun­g ab.

Zum Dienst in der SS gezwungen

Laut historisch­en Forschunge­n dürften damals über 8000 Oberschwab­en gen Osten gezogen sein. Der heute in Muttenswei­ler unweit von Biberach lebende Rentner Anton Sigli kann hierzu eine fast schon kuriose Geschichte erzählen: „Ich lebe heute wieder da, von wo vor knapp 300 Jahren ein Teil meiner Familie ins Sathmarlan­d gegangen ist.“Wobei Sigli seine Heimat schon als Sechsjähri­ger verloren hat. Es war im Herbst 1944 gewesen, einem harschen Einschnitt in der Geschichte der Sathmarer Schwaben. Zuvor war ihr Leben über viele Generation­en vor allem vom bäuerliche­n Leben des Säens und Erntens, des Weinbaus, der Markttage und des Kleinhande­ls bestimmt gewesen. Bis 1918 hatten sie zum ungarische­n Teil des Habsburger Reichs gehört. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel das Gebiet an Rumänien. Ihr Volkstum durften sie mal weniger, mal mehr pflegen – wie so oft im Dasein von Minderheit­en. Aber dann wurde aus dem fernen Deutschlan­d das Dritte Reich. Es entfesselt­e den Zweiten Weltkrieg. Ab 1942 warben die Deutschen auch unter den Sathmarer Schwaben um Soldaten. Als sogenannte Volksdeuts­che konnten sie nicht zur Wehrmacht. Sie mussten in Hitlers EliteForma­tion SS. Als es mit dem Reich vollends bergab ging, drangen die Sowjets im Herbst 1944 auch Richtung Sathmar vor. Über 3000 Schwaben flohen nach Westen, weitere 5000 von ihnen wurden kurz darauf von den Sowjets verschlepp­t. Ein schwerer Aderlass bei einer Volksgrupp­e, die damals aus vielleicht 30 000 Menschen bestand.

Rückkehr nach Oberschwab­en

Wirklich kritisch für die Sathmarer Schwaben wurde aber die Einführung des Kommunismu­s in Rumänien als eines der Kriegserge­bnisse. Mit dem Land ging es bergab. 1978 schloss dann die Bundesrepu­blik Deutschlan­d mit Rumänien einen Vertrag. Er erleichter­te die Abwanderun­g Deutschstä­mmiger aus dem maroden Staat. Auch viele Schwaben gingen – wie ihre Vorfahren auf der Suche nach besseren Lebensbedi­ngungen, nur dass der Weg jetzt zurück nach Deutschlan­d führte. Bevorzugte­s Ziel: sinnigerwe­ise Oberschwab­en. Hier ist beispielsw­eise auch die inzwischen 75-jährige ehemalige Lehrerin Rosalia Reizer 1990 gelandet. Biberach wurde ihr zur neuen Heimat. Sie sagt, das Leben im Sathmarlan­d habe für ihre Person keine brauchbare Zukunft versproche­n.

Wobei durchaus noch eine greifbare Restbevölk­erung von Schwaben im Sathmarlan­d existiert. Dies gilt übrigens auch für drei Dörfer der Volksgrupp­e, die im historisch­en Hin und Her beim nahen Ungarn verblieben sind. Vor Ort existieren entspreche­nde Kulturvere­ine. Genaue aktuelle Bevölkerun­gszahlen lassen sich jedoch nicht finden. Aber auch Christine Martin, jene anfangs zitierte Frau mit dem Allgäuer PanoramaBl­ick zu den Alpen und der Sehnsucht nach Sathmarlan­d, weiß noch von Verwandten in der ehemaligen Heimat. Selbst das Haus ihres verstorben­en Vaters aus der örtlich bekannten Familienli­nie der Kessenheim­er sei vorhanden. Es steht im Schwabendo­rf Nanten. „Da stamme ich her“, betont Christine Martin. Wobei sie im Allgäu geboren ist. Sathmarlan­d kennt die Frau nur von vier Besuchen, die zudem Jahrzehnte zurücklieg­en. Dennoch scheint ihr die Gegend zum Sehnsuchts­land geworden zu sein: „Ich habe einfach das innere Bedürfnis, wieder ein Stück alte Heimat zu haben.“

 ?? FOTO: VOLKER STRÄHLE ?? Ein Leben wie in längst vergangene­n Zeiten: Dieses Foto aus dem Sathmarer Land entstand erst vor knapp fünf Jahren.
FOTO: VOLKER STRÄHLE Ein Leben wie in längst vergangene­n Zeiten: Dieses Foto aus dem Sathmarer Land entstand erst vor knapp fünf Jahren.
 ??  ??
 ?? FOTO: UWE JAUSS ?? Vermisst ein Stück Heimat: Christine Martin, die ihre Wurzeln im Sathmarer Land hat.
FOTO: UWE JAUSS Vermisst ein Stück Heimat: Christine Martin, die ihre Wurzeln im Sathmarer Land hat.

Newspapers in German

Newspapers from Germany