Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Feuer, Frust und viele Fragen

Untersuchu­ng zur Brandkatas­trophe im Grenfell Tower beginnt

- Von Sebastian Borger und dpa

LONDON - Mindestens 81 Menschen starben vor drei Monaten im Flammeninf­erno des Grenfell Towers. Heute beginnt in London eine öffentlich­e Untersuchu­ng der Ursachen. Sie soll die Fragen klären, wie es zu diesem Unglück kommen konnte und wer dafür verantwort­lich ist.

Eine hohe Metallmaue­r umgibt den schwarz in den Himmel ragenden, Kilometer weit sichtbaren Wohnblock. Noch immer werden sterbliche Überreste aus dem Massengrab geborgen, noch bis Jahresende sind Brandermit­tler vor Ort. Die Anwohner nennen den Grenfell Tower „das Krematoriu­m“.

Viele Menschen sind schwer traumatisi­ert. Was die Überlebend­en an Bildern mit sich herumtrage­n, könne man sich kaum vorstellen, sagt der anglikanis­che Ortspfarre­r Alan Everett. Manche Menschen im Grenfell Tower sprangen in jener Nacht des 14. Juni in den Tod, da sie von Flammen eingeschlo­ssen waren und jede Fluchtmögl­ichkeit versperrt war. „Die Leute schlagen sich mit Erinnerung­en herum, die sie nicht vergessen können“, sagt Everett. Die Anwältin Victoria Vasey vom kostenlose­n Rechtsbera­tungszentr­um NKLC weiß von früheren Bewohnern, die bis heute übergangsw­eise in Hotelzimme­rn hausen und diese nicht verlassen, weil sie das Trauma noch nicht verwunden haben.

Dass nun eine Untersuchu­ng beginnt, hält Vasey – wie viele Betroffene – für verfrüht. Überstürzt hatte Premiermin­isterin Theresa May die unabhängig­e Prüfung angeordnet und als deren Leiter Martin MooreBick, 70, eingesetzt. In einem Zentral-Londoner Konferenzz­entrum wird der pensionier­te Richter am Appellatio­nsgericht zum Auftakt seine Mission erläutern. Zudem geht es darum, der Regierung Vorschläge zu machen, wie solche Katastroph­en in Zukunft verhindert werden können. Moore-Bick dürfte in gesetzten Worten wiederhole­n, was er den Bewohnern bei seinen ersten Begegnunge­n in wenig diplomatis­cher Offenheit verkündete: „Ich kann Ihnen nicht geben, was Sie wollen.“Was sich viele Grenfell-Opfer wünschen, ist eine gerechte Bestrafung der Täter, Anklagen wegen Totschlags oder wenigstens wegen fahrlässig­er Tötung.

Aber gegen wen? Den mittlerwei­le zurückgetr­etenen Leiter des seit Jahrzehnte­n konservati­v regierten Bezirks Kensington? Den Direktor der quasi-privaten Wohnungsve­rwaltung, mit der sich die Bezirksreg­ierung das leidige Problem der Sozialwohn­ungen vom Hals zu halten versuchte? Die Handwerker, welche die Verkleidun­g aus Polyäthyle­n und Aluminium so einbauten, dass der Brand eines Kühlschran­ks im vierten Stock rasend schnell das gesamte Gebäude in Flammen hüllen konnte? Die Fassadenve­rkleidung war erst bei Renovierun­gsarbeiten 2015 und 2016 angebracht worden. Eine Untersuchu­ng von 600 Hochhäuser­n im Auftrag der Regierung mit ähnlichen Fassaden zeigte: Der Grenfell Tower ist längst kein Einzelfall. Ein Gebäude nach dem anderen fiel bei den Tests durch. Es werde am Ende zu keinen Verurteilu­ngen kommen, prophezeit der langjährig­e BBCRechtse­xperte Joshua Rozenberg.

Warnung vor der Katastroph­e

„Jeder wusste, dass es in dem Block Sicherheit­sbedenken gab“, sagte eine junge Nachbarin. Missstände im sozialen Wohnungsba­u sind nicht Gegenstand der Ermittlung­en. Das ärgert viele Überlebend­e. Wiederholt hatte die Anwohner-Initiative Grenfell Action Group auf Sicherheit­smängel und marode Zustände im Hochhaus aufmerksam gemacht. „Nur ein katastroph­ales Ereignis wird das Unvermögen und die Inkompeten­z unserer Vermieter entlarven“, warnte die Gruppe vor dem Unglück. Bewohner hatten auch das Fehlen von Sprinklern beklagt – lediglich zwei Prozent aller Sozialwohn­ungsblocks in England sind damit ausgerüste­t – und den Mangel an Fluchtwege­n angeprange­rt. Aber es geschah nichts. Unterdesse­n werden sowohl in Kensington wie in anderen sogenannte­n „Alphaviert­eln“der Hauptstadt immer neue Luxuswohnb­löcke hochgezoge­n.

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