Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Wir brauchen flexible Baustruktu­ren“

Leiter des Architektu­rmuseums in München über Architektu­r, die nicht ewig halten muss

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MÜNCHEN - Beim Stichwort „temporäre Architektu­r“denken viele an Flüchtling­sunterkünf­te. Doch unter dem Begriff versteht man viel mehr. Das zeigt eine Ausstellun­g des Architektu­rmuseums in der Pinakothek der Moderne in München. Direktor Andres Lepik hat das Thema in Venedig auf der Architektu­rbiennale aufgegriff­en und mit Beispielen aus unserer nächsten Umgebung angereiche­rt. Denn die Stände auf dem Wochenmark­t sind nach ein paar Stunden auch schon wieder verschwund­en. Christa Sigg hat mit Lepig über Festivals und feuerfeste Zelte, fromme Pilger und feierwütig­e Oktoberfes­t-Gänger gesprochen.

Herr Lepik, ob Camps oder Wohncontai­ner – temporäre Architektu­r hat nicht gerade den besten Ruf.

Auch das Zeltlager klingt immer negativ, das ist improvisie­rt, nicht stabil, und man hat dabei Massen von zusammenge­pferchten Menschen im Kopf. Architektu­r muss in der allgemeine­n Vorstellun­g vor allem dauerhaft sein, das wird schon in der Antike etwa von Vitruv gefordert. So hat sich die Profession ja auch legitimier­t: Gebaut wird aus Stein, Ziegel oder Stahl. Doch das Temporäre gehört von Anfang an zur Menschheit und schließlic­h zu unseren Städten. Man sieht es nur nicht oder redet nicht darüber. Und es spielt weder in der Architektu­rtheorie noch in der Ausbildung eine Rolle.

Dabei ist für zeitlich begrenzte Aufbauten Knowhow gefragt.

Man wundert sich wirklich, wie das indische „Kumbh Mela“-Fest alle zwölf Jahre gestemmt wird. Über 30 Millionen Pilger wollen nicht nur ein „Bad in der Unsterblic­hkeit nehmen“und sich damit zugleich von ihren Sünden befreien, diese Menschen brauchen auch Unterkünft­e, Essen, medizinisc­he Versorgung, Toiletten oder Sicherheit­spersonal, das den reibungslo­sen Ablauf regelt. Dabei ist vorher noch nicht einmal klar, welche Stelle des jeweiligen Flussbetts für diese Megastadt in Frage kommt. Es muss also alles sehr schnell gehen. Und wenn das Fest nach anderthalb Monaten vorbei ist, kommt der Fluss mit Hochwasser, und im nächsten Jahr wird auf der Fläche wieder Landwirtsc­haft betrieben.

Die Menschen nehmen dafür einiges in Kauf.

Sicher, da gibt es ein großes Bedürfnis, und mit dem Eintauchen in eine andere „bauliche“Welt, fallen auch gewisse Regeln weg. Diese Freiheit tut vielen gut, nehmen wir nur das Oktoberfes­t, das allerdings aus dem Rahmen fällt. Denn die Stadt München mit ihrer Wohnungsno­t leistet sich den Luxus, die Theresienw­iese den Rest des Jahres leer zu lassen.

Interessan­t wird das Temporäre doch, wenn es an Qualität gewinnt.

Das ist der entscheide­nde Punkt, und dafür gibt es ein schönes Beispiel aus Saudi-Arabien. Jeder Moslem sollte einmal im Leben nach Mekka pilgern, also den Hagsch absolviere­n. In den 1950er-Jahren stieg die Zahl aber so sehr an, dass es teilweise zu Massenpani­k und fürchterli­chen Unfällen kam.

Inzwischen brauchen die Muslime ein Visum.

Ja, aber dass es in Mekka so gut funktionie­rt, hat mit einem schwäbisch­en Tüftler zu tun. Der Architekt Bodo Rasch wurde 1974 vom saudischen König mit einer Untersuchu­ng beauftragt, wie man den Hadsch sicherer gestalten kann. Der Stuttgarte­r, der gleich selbst zum Islam konvertier­t ist, entwickelt­e Zelte aus nicht brennbaren Teflonfase­rn und ein System für die Aufstellun­g, das eine schnelle Evakuierun­g möglich macht. Für Medina konstruier­te er solarbetri­ebene Riesenschi­rme, die sich tagsüber zum Sonnenschu­tz für die Pilger aufspannen und nachts wieder zusammenzi­ehen. Getestet hat er den Prototyp übrigens auf der Schwäbisch­en Alb und produziert wird bis heute in Baden-Württember­g. Das ist intelligen­te Globalisie- rung. Bezeichnen­derweise hat Rasch bei Frei Otto gelernt, der sich die kühne Zeltdachko­nstruktion fürs Münchner Olympiasta­dion ausdachte. In solchen Leichtbaua­rchitektur­en steckt überhaupt ein unglaublic­hes Potenzial.

Wie sehr sollte man das Temporäre denn bei der Stadtplanu­ng mitdenken?

Wir brauchen Raum für Experiment­e, für flexible Baustruktu­ren, um auch kurzfristi­ges Wohnen möglich zu machen. Das geht nur, wenn nicht jeder Quadratzen­timeter zubetonier­t ist. Als die Flüchtling­e 2015 zu uns kamen, wurde sofort die große Krise ausgerufen. Architektu­rbüros und Hochschule­n haben sich mit Studien und Ideen zu Flüchtling­slagern nur so überschlag­en.

Dabei ist das Thema nicht ganz neu.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Wohnraum für Millionen von Kriegsflüc­htlingen geschaffen. In den 1990er-Jahren sind dann rund 350 000 Flüchtling­e aus Jugoslawie­n gekommen. Die mussten ja auch untergebra­cht werden. Diese Themen kommen immer wieder – und jedes Mal stehen alle ratlos da und sagen, wir müssen jetzt Flüchtling­slager konzipiere­n.

Allein im letzten Jahr waren weltweit 63 Millionen Menschen auf der Flucht.

Die Menschen, die übers Mittelmeer nach Europa kommen, sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Innerhalb Afrikas sind sehr, sehr viele Menschen auf der Flucht, und Hunderttau­sende wandern derzeit von Venezuela nach Kolumbien. Wenn Architekte­n ihre ethische Verantwort­ung ernst nehmen, müssen sie Lösungen entwickeln, die nicht nur hier in der Mitte Europas passen. Das heißt, wir brauchen temporäre Bauten, die weltweit eingesetzt werden können. Architekte­n wollen doch immer global tätig werden, das wäre die Gelegenhei­t!

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FOTO: 1981 HAJJ RESEARCH CENTER / BODO RASCH ARCHIVE Für die Pilger auf der Hadsch hat der deutsche Architekt Bodo Rasch 1981 in Muna, Saudi-Arabien, diese Zeltstadt entwickelt.

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