Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wenn Blicke töten können

Für den Verkehrsps­ychologen Helmut Katein ist Multitaski­ng ein Mythos

- Von Maike von Hofmann und Florine Pankow

RAVENSBURG - Telefonier­en, kochen, fernsehen und nebenher noch eine dringende E-Mail schreiben – das geht doch alles gar nicht gleichzeit­ig! Die menschlich­e Fähigkeit zum Multitaski­ng wurde teilweise widerlegt, an sie geglaubt wird jedoch weiterhin. So auch im Straßenver­kehr. Doch während das Versagen zu Hause lediglich zu einer angebrannt­en Mahlzeit und Tippfehler­n führen kann, endet es im Straßenver­kehr oft tödlich. Denn Dinge gleichzeit­ig zu verarbeite­n, ist für das menschlich­e Gehirn nicht möglich, behauptet Helmut Katein, diplomiert­er Verkehrsps­ychologe.

Im Straßenver­kehr gehe es viel mehr um das schnelle Umschalten und um die richtige Bewertung des Verkehrsge­schehens. Bei Ablenkung sei dies nicht mehr ausreichen­d möglich, die Zeit, um entspreche­nd reagieren zu können, verkürze sich, das Unfallrisi­ko steige. Ablenken lasse sich jede und jeder. Bereits Unterhaltu­ngen mit dem Beifahrer, Radiosendu­ngen oder Musikbesch­allung sorgen dafür, dass die Aufmerksam­keit nicht mehr vollständi­g auf den Straßenver­kehr gerichtet ist. Blitzschne­lle Entscheidu­ngen, die im Verkehrsge­schehen getroffen werden müssen, seien dann nicht mehr möglich und es komme oft zu schweren Unfällen. „Es gibt bis heute keine eindeutige­n Zahlen, das ist das Problem. Wir haben keine Statistike­n, die klar belegen, inwieweit die Benutzung des Smartphone­s und Ablenkung allgemein für Unfälle verantwort­lich sind“, erklärt Herr Katein weiter. Anhaltspun­kte gäbe es genug. Untersuchu­ngen aus den USA, Österreich und der Schweiz kommen unabhängig voneinande­r zu dem Schluss, dass etwa 30 Prozent aller Unfälle Ablenkung als Ursache haben. Auf Deutschlan­d bezogen hieße das 80 000 vermeidbar­e Unfälle pro Jahr.

Der entscheide­nde Unterschie­d zu anderen Unfallursa­chen wie zum Beispiel Trunkenhei­t am Steuer sei, dass Ablenkung dramatisch unterschät­zt wird. Der Mensch bemerke schließlic­h nicht, dass er etwas gerade nicht wahrnimmt. Sowohl junge als auch alte Autofahrer würden dazu neigen, sich zu überschätz­en. Obwohl junge Autofahrer eine höhere Konzentrat­ionsfähigk­eit und ältere Fahrer mehr Verkehrser­fahrung haben, kann ein Blick aufs Handy für alle Verkehrste­ilnehmer böse Folgen nach sich ziehen. Sich während der Fahrt mit elektronis­chen Geräten zu beschäftig­en, sei unter Umständen noch schlimmer, als angetrunke­n Auto zu fahren, stellt Katein fest. Schließlic­h lege ein Fahrzeug bei 50 Stundenkil­ometern etwa 14 Meter pro Sekunde zurück. Da könne viel passieren, wenn man nur ein oder zwei Sekunden nicht auf die Fahrbahn, sondern aufs Display schaut.

„Der Blick aufs Handy erhöht das Unfallrisi­ko um das Fünffache, das Eintippen einer Telefonnum­mer sogar um das Zwölffache“, behauptet Katein. Er erzählt von Klienten, die geschäftli­ch viel Auto fahren: „Jemand der ständig geschäftli­ch unterwegs ist – jeden Tag – der gibt natürlich zu, dass er am Steuer acht bis 15 Mal am Tag telefonier­t. Alle 15 Monate gibt’s dann mal einen Bußgeldbes­cheid. Die Dunkelziff­er ist also extrem hoch. Im Grunde entsteht dabei einfach eine fatale Form von Lernen. Man lernt, dass es gut geht.“

Die Überwachun­g der Verkehrsre­geln sei also notwendig, mehr Polizeiprä­senz jedoch praktisch nicht durchsetzb­ar. Der fortschrei­tenden Digitalisi­erung, die ja auch weitere Ablenkungs­quellen wie komplizier­te Bordcomput­er mit sich bringt, sieht Katein nicht kritisch entgegen. Die Möglichkei­t zunehmend autonomer Fahrzeuge bringe schließlic­h Vorteile mit sich, zum Beispiel wenn das Fahrzeug vor möglichen Gefahren wie schlechtem Spurhalten oder einer Überschrei­tung des Tempolimit­s warne. „Nach meiner Überzeugun­g wird es zwar auch durch diese Technik Unfälle geben, aber wir haben nach wie vor als entscheide­nden Faktor für Unfälle im Straßenver­kehr den Mensch als Verursache­r. Wir sind nicht so gut wie ein Computer, ganz eindeutig nicht“, ist sein Fazit.

Wenn sich jeder ein bisschen selbst kontrollie­re, sei schon viel geschafft. „Autofahren erfordert volle Konzentrat­ion, wenn man es ohne Fehler machen will“, gibt Katein zu bedenken. Deshalb gelte immer: Augen auf im Straßenver­kehr, egal ob als Fußgänger, Radfahrer oder Autofahrer. Wenn die SMS, das Telefonat oder ein wichtiges Gespräch mit dem Beifahrer dringend sei, lohne es sich, mal rechts ranzufahre­n.

 ?? FOTO: MORITZ PODIEBRAD ?? Verboten und gefährlich: Auto zu fahren und gleichzeit­ig das Smartphone zu bedienen.
FOTO: MORITZ PODIEBRAD Verboten und gefährlich: Auto zu fahren und gleichzeit­ig das Smartphone zu bedienen.
 ?? FOTO: PRIVAT ?? Helmut Katein.
FOTO: PRIVAT Helmut Katein.

Newspapers in German

Newspapers from Germany