Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen“
Kerstin Andreae, baden-württembergische Spitzenkandidatin der Grünen, zu den Zielen ihrer Partei nach der Wahl
STUTTGART - Für die Spitzenkandidatin der Grünen in Baden-Württemberg, Kerstin Andreae, geht es bei der Bundestagswahl am nächsten Sonntag um eine „Richtungsentscheidung in Deutschland“. Die Frage sei, „welche Partei die CDU korrigiert und für die richtigen Weichenstellungen in diesem Land sorgt“, sagte Andreae im Gespräch mit Kara Ballarin und Claudia Kling. Die Bundestagsabgeordnete warb zudem für eine Steuer- und Wirtschaftspolitik, bei der Gerechtigkeit und Ökologie im Zentrum stehen.
Frau Andreae, das Wahlprogamm der Grünen umfasst 238 Seiten. Wieso braucht Ihre Partei so viele Seiten mehr als andere Parteien, um ihren Standpunkt klarzumachen?
Wir sind eine Partei, die thematisch sehr in die Tiefe geht. Wir hinterlegen und überprüfen unsere Politik mit Studien und das mündet in einem ausführlichen Wahlprogramm. Aber letztlich haben wir zehn ganz konkrete Punkte genannt. Vom Klimaschutz bis zur sozialen Sicherheit und der Integration.
Trotz des Umfangs sind Sie an manchen Stellen eher vage geblieben – beispielsweise dann, wenn es um Steuern geht. Wollten Sie einen ähnlichen Schiffbruch wie vor vier Jahren vermeiden?
Im letzten Wahlkampf haben wir zu sehr über Steuersätze, Freibeträge und Progressionsstufen geredet. Das war viel zu technisch und unsere große Idee blieb dahinter leider verborgen: ein modernes, ökologisches und gerechtes Steuersystem. Deswegen wollen wir ökologisch schädliche Subventionen abbauen und Anreize für ein bewusstes und nachhaltiges Verhalten setzen. Die Ungerechtigkeiten im Steuer- und Abgabesystem müssen beseitigt werden. Das bedeutet, vor allem die unteren und mittleren Einkommen sowie Familien zu entlasten.
Werden die Wähler der Grünen Ihre Vorhaben zu schätzen wissen?
Ja, wenn klar wird, dass in einer solidarischen Gesellschaft die Besteuerung nach Leistungsfähigkeit erfolgen sollte. Die Vorschläge von Union und FDP, nämlich Steuersenkungen via Gießkanne, sind nicht gerecht. Mir hat noch keiner erklären können, warum Gutverdiener, also auch Minister, Staatssekretäre und Bundestagsabgeordnete, künftig weniger Steuern zahlen sollen, gleichzeitig aber Menschen mit geringen Einkommen und Familien nicht entlastet werden.
Die Grünen fordern eine „verfassungsfeste, ergiebige und umsetzbare Vermögensteuer für Superreiche“. Heißt das, Sie fordern im Grunde keine Vermögensteuer?
Das grundsätzliche Problem einer Vermögensteuer ist, dass wir Privatund Betriebsvermögen nicht ohne weiteres getrennt behandeln können – das ist mit dem Wort verfassungsfest gemeint. Ich habe kein Interesse daran, dass ein Mittelständler am Ende eine Maschine verkaufen muss
und zwei Arbeitsplätze wegfallen, nur weil wir seine Substanz besteuern. Andererseits habe ich überhaupt nichts gegen eine Steuer auf Privatvermögen. Die Anhäufung von privatem Vermögen auch über Erbschaften führt zu einer Verfestigung der Schere zwischen Arm und Reich. Deshalb sollten wir in der nächsten Legislaturperiode eine Vermögensbesteuerung auf den Weg bringen, die dies berücksichtigt.
Auch bei der Erbschaftsteuer heißt es im Wahlprogramm eher allgemein, dass Sie ein einfacheres und gerechteres Modell anstreben. Auf was müsste sich der Unternehmer in Baden-Württemberg einstellen?
Wir müssen die besondere Situation gerade der Familienunternehmen in Baden-Württemberg berücksichtigen, die in ihrer Struktur völlig anders aufgebaut sind als große Konzerne und übrigens oft mit einer viel höheren sozialen Verantwortung für ihre Mitarbeiter handeln. Diese Unternehmenskultur wollen wir stärken und nicht beschädigen. Die Erbschaftsteuerreform, so wie sie 2016 beschlossen wurde, wird meiner Meinung nach bei einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht bestehen. Die bessere Alternative ist daher eine einfache Erbschaftsteuer als Flat-Tax, wie sie auch vom Sachverständigenrat vorgeschlagen wurde.
Mit beiden Forderungen dürfte es in einer schwarz-grün-gelben Ko- alition schwierig werden. Sehen Sie darin nicht verhandelbare Bedingungen für eine grüne Regierungsbeteiligung?
Es geht nicht um die Frage: Jamaika ja oder nein. Wir stehen vielmehr vor einer Richtungsentscheidung in Deutschland. Die Umfragen deuten nun mal darauf hin, dass Merkel Kanzlerin bleibt. Die Frage ist nur, welche Partei die CDU korrigiert und für die richtigen Weichenstellungen in diesem Land sorgt. Wir Grüne konkurrieren dabei mit der FDP, die für eine Politik der Rückschritte steht. Das Natur-, Umweltund Klimaschutzprogramm der FDP ist ein ökologischer Albtraum. Ökonomisch und ökologisch geht es also nur mit grüner Politik in eine saubere, gesunde und nachhaltige Zukunft. Deshalb wollen wir der nächsten Regierung angehören.
Welche Aussagen im Wahlprogramm sind Ihnen besonders wichtig?
Die Ökologie muss ins Zentrum der Ökonomie. Klima-, Umwelt- und Naturschutz sind essentiell für die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen, heute und für die künftigen Generationen. Das ist auch eine ökonomische
Frage: Wenn wir es nicht schaffen, zukunftsfähige, ressourcensparende und emissionsfreie Produkte zu entwickeln, werden wir wirtschaftlich abgehängt. Dass wir raus müssen aus dem Verbrennungsmotor ist keine grüne Ideologie sondern die Voraussetzung dafür, dass unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt. Viele andere Länder gehen diesen Weg bereits sehr erfolgreich.
Ist die Haltung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Dieselskandal nicht eher kontraproduktiv?
Überhaupt nicht. Wir sind uns völlig einig darin, dass die Zukunft der Mobilität emissionsfrei, vernetzt und sicher sein muss. Da gibt es keine Diskussionen. Er hat gesagt, der saubere Diesel sei eine Übergangstechnologie. „Sauber“bedeutet, dass die Grenzwerte eingehalten werden. Wir brauchen Brückentechnologien, bis wir aus dem Verbrennungsmotor aussteigen können. Ob das jetzt bis 2028, 2030 oder 2032 zu machen ist, ist für mich zweitrangig. Kretschmann hat die notwendige Frage aufgeworfen, was jetzt gemacht werden muss, damit der Übergang funktioniert.
Zurück zur Steuer- und Haushaltspolitik: Finanzminister Schäuble freut sich über die schwarze Null. Teilen Sie seine Freude?
Ich bin für eine solide und seriöse Haushaltspolitik. Wir können es uns einfach nicht leisten, so wie zum Beispiel Verkehrsminister Dobrindt, einfach Geld zu verbrennen. Wir haben eine Verantwortung gegenüber den nächsten Generationen. Ich habe aber Zweifel, dass es der Union gelingt, die Schuldenbremse einzuhalten, Steuern in exorbitanter Höhe zu senken und gleichzeitig zu investieren. Da werden Steuergeschenke in Höhe von jährlich 15 Milliarden Euro in Aussicht gestellt, die so nicht finanzierbar sind – und abgesehen davon auch ungerecht wären. Noch ein Wort zu den Investitionen: Wir sind bei der Digitalisierung so hintendran, dass wir von allen anderen abgehängt werden. Noch so ein Versäumnis von Dobrindt und der Bundesregierung. Es wird enorm viel Geld und gute Ideen brauchen, um zukunftsfähig zu bleiben.
Sie wollen auch für Familien und Bildung mehrere Milliarden pro Jahr zusätzlich ausgeben. Wie wollen Sie das gegenfinanzieren?
Steuermehreinnahmen investieren wir ebenso zielgerichtet, wie wir im Haushalt umschichten. Am besten in gute Bildung und Infrastruktur, damit alle die gleichen Chancen bekommen – unabhängig vom Geldbeutel der Eltern und ihrer Herkunft. Deshalb sind Investitionen in den Bau von Ganztagsschulen, Mensen, Kinderbetreuung und Turnhallen so zentral. Es wird oft unterschätzt, wie viele Kinder ohne ordentliches Frühstück in die Schule kommen.
Wie wollen Sie Familien entlasten?
Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass Gutverdienende dank höherer Freibeträge mehr vom Kindergeld haben, als Menschen mit einem mittleren oder geringen Einkommen. Unsere Philosophie muss doch sein, dass uns jedes Kind gleich viel wert ist. Wir wollen die Chancen der Kinder in den Vordergrund stellen und nicht die Vermögensverhältnisse der Eltern. Deshalb fordern wir statt des Kindergelds eine Kindergrundsicherung, von der vor allem Geringverdiener profitieren würden.
Im Moment scheinen Sie mit Ihren Anliegen nicht durchzudringen, wenn man den Umfragen glauben darf. Sie liegen im Rennen um Platz drei auf dem letzten Platz.
Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, und wir kämpfen bis zum letzten Tag um jede Stimme. In meinem Wahlkreis Freiburg nehme ich die Stimmung deutlich positiver war, als es die Umfragen nahelegen. Diesen Schwung nehmen wir mit in den Schlussspurt des Wahlkampfes.