Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Spurensuche in der Vergangenheit
Neil Diamond bezaubert 7000 in Mannheim mit altbekanntem Songrepertoire und unverbrauchter Stimme
MANNHEIM - Die Welt hat sich schon sehr verändert in den vergangenen 45 Jahren. Man kann das an wichtigen Dingen festmachen – oder an einem Konzert. Neil Diamonds ultimatives Album „Hot August Night“stammt von einem rauschenden Auftritt im Greek Theatre von Los Angeles im Jahr 1972. Ein Rockkonzert war damals eine subversive Angelegenheit. Spätestens wenn das Licht ausging, zog ein süßlicher Duft durch die Hallen von den vielen Joints, die angesteckt wurden. Komfort für das durchweg jugendliche Publikum gab es nicht, weder ein vernünftiges Catering, noch genügend Toiletten. Auf den hinteren Rängen gab es nicht viel zu sehen, es sei denn, man hätte ein Fernglas bemüht.
Samstagabend, SAP-Arena, 45 Jahre später: Rauchverbot, beste Sicht auf allen Plätzen, Videowände, eine digitale Warnung vor möglicherweise zu hoher Lautstärke und kostenlos offerierte Ohrstöpsel. Und schließlich die zweisprachige, dringende Aufforderung, doch bald die Plätze aufzusuchen, denn „Herr Diamond“gedenke nun alsbald zu beginnen mit der Show, das Licht werde ausgeschaltet. Einen Oberschenkelhalsbruch mochten die Veranstalter bei der Ü50-Party nicht riskieren.
„Herr Diamond“ist inzwischen 76 Jahre alt. Noch immer ein sehr gut aussehender Mann, mit dem langhaarigen, feurigen Beau von „Hot August Night“hat er aber kaum mehr etwas gemein. Wäre da nicht diese Stimme. Die tönt so kraftvoll, warm und voluminös wie eh und je. Im Verbund mit seinem kompositorischen Talent hat sie Diamond zum Weltstar gemacht. Rund 130 Millionen Tonträger hat der US-Entertainer verkauft, damit zählt er zu den erfolgreichsten Musikern des Planeten. 37 Top-10Singles, 16 Top-10-Alben, Grammys, Golden Globes und andere Ehrungen pflastern den Weg, den der Sohn polnisch-russischer Emigranten aus Brooklyn/New York 1966 mit seiner ersten Komposition „Solitary Man“in Angriff genommen hat.
Es ist ein fabelhaftes Stück, eines seiner besten, aber später hat Diamond so viele Welthits geschrieben, dass die Qualität von „Solitary Man“in den Hintergrund trat. Es ist nichts weniger als ein amerikanisches Liederbuch: „Cherry, Cherry“, „I’m A Believer“, „Cracklin’ Rosie“, „Sweet Caroline“, „Beautiful Noise“, „Holly Holy“, „Red Red Wine“und natürlich das grandiose „I Am ... I Said“. Alle Stücke sind auf „Hot August Night“verewigt, und Diamond hat sie auch in dieser Mannheimer Samstagnacht im September gespielt, zwölf Titel, mehr als die halbe Doppel-LP.
Nur ein neueres Stück
Der routinierte Entertainer nahm die 7000 mit auf eine Reise in die Vergangenheit, dorthin, wo die Erinnerung an die eigene Jugend wohnt, fest eingebettet in die nostalgische Verklärungssoftware. 26 Stücke inklusive Zugaben präsentierte er mit seiner virtuosen elfköpfigen Band und den zwei nicht weniger exzellenten Backgroundsängerinnen, und nur eines dieser Lieder stammte nicht aus längst vergangenen Tagen: das wunderschöne „Pretty Amazing Grace“vom 2008er-Album „Home Before Dark.“
Nach seiner hochkreativen Phase in den Siebzigern begnügte sich Diamond über Jahrzehnte damit, alle paar Jahre weniger inspirierte Alben mit Coverversionen und wenig aufregenden Eigenkompositionen zu veröffentlichen. Es war ihm wohl nicht mehr so wichtig, denn seine Tourneen waren Selbstläufer, sein Name längst fest verankert in den Köpfen seiner Millionen zählenden Anhängerschaft. Das änderte sich erst 2005, als er mit dem Produzenten Rick Rubin, der auch schon für das gelungene Alterswerk von Country-Legende Johnny Cash verantwortlich zeichnete, sein hochgelobtes 26. Studio-Album „12 Songs“aufnahm. Rubin drängte Diamond, Schmalz und Pomp ade zu sagen, sein Liedgut zu entschlacken, tiefer zu bohren, um an die Ressourcen von Songs wie „Solitary Man“oder „I Am ... I Said“zu kommen.
Auch beim Konzert in Mannheim sind Diamonds beste Momente die ruhigen, besinnlichen, wenn sich das begeisterte Publikum nach den Mitklatsch-Gassenhauern wie „Forever In Blue Jeans“oder „Song Sung Blue“wieder hingesetzt hat. „Brooklyn Roads“beispielsweise, eine Spurensuche in der Kindheit, untermalt von alten Videoschnipseln mit Mutter, Vater, Bruder. Überhaupt: die geschmackvoll arrangierte Bühne, die stilsichere, sparsame Lightshow, die Qualität der Band. Da sitzt jeder Ton wie ein Maßanzug, da greift ein Rädchen ins andere: großes Kino.
Ein Rockkonzert war diese keimfreie Show nicht – dafür Entertainment auf Spitzenniveau. 130 Minuten mit hohem Glaubensfaktor: „Then I saw his show, now I’m a believer.“