Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Revolutionäres und Rührseliges in einer flirrenden Kunstnacht
Viele Besucher waren unterwegs: Die elf Kunst-Lokale der Premiere von 2004 sind mittlerweile auf 38 angewachsen
RAVENSBURG - Tausende sind in der Stadt unterwegs, um sinnliche Eindrücke zu sammeln und auszutauschen. Ein weiter Kunstbegriff versammelt akademische und autodidaktische, engagierte oder nur nebenher ausgeübte, arrivierte und junge, therapeutische und handwerkliche Kunst.
In der Galerie in der Caritas überraschten stolze Figuren von Maurizio Righetti mit ihrer schnörkellosen Silhouette. Der Italiener aus den Abruzzen hat seine 40 bis 60 Zentimeter hohen Terrakotta-Figuren glänzend lackiert oder matt mit Pigmenten behandelt. Für seine erdfarbenen Bilder nimmt er Böden von Weinbergen, Olivenhainen und Feldern seiner Heimat. Anush KaravirtSoghomonyan sang dazu ein Lied vom Heimweh aus ihrem Programm mittelalterlicher armenischer Volkslieder.
Im Mehrgenerationenhaus Gänsbühl eröffnete, statt des verkehrsbedingt verhinderten Ersten Bürgermeisters Simon Blümcke, Ravensburgs Kulturamtsleiter Franz Schwarzbauer die Kunstnacht. Er lobte den vom Wettergott begünstigten Tag und die Idee, zum 20. Geburtstags des Mehrgenerationenhauses 70 Kooperationspartner Jubiläumskisten gestalten zu lassen. Diese Assemblagen seien eine erst im 19. Jahrhundert erfundene Kunsttechnik, hob Schwarzbauer hervor. Zu der Vielfalt der kleinen Objekte servierte das Café Miteinander Suser und Zwiebelkuchen. Ein Kunstwerk hielt fast jeder Besucher mal in der Hand, nämlich den Programmflyer. Er wurde als Teil des Gesamtkonzepts der Kunstnacht mit dem iF-Design-Award 2017 ausgezeichnet.
Eine Frau mit Kindern spazierte durch das offene Portal der Liebfrauenkirche. Auf den Bänken flackerten kleine Kerzen. Das integrative, von der Kreativagentur d-werk begleitete Kunstprojekt „Seelenvogel“faszinierte die Besucher. Eltern und Kinder, Menschen mit und ohne Fluchtgeschichte hatten mit den Kunsttherapeutinnen Marion und Petra Mang ihre Erfahrungen gestaltet. Über 50 Kästchen wurden zu „Seelenräumen“, die sich im Schatten hölzerner Flügel bargen. Manches musste man erst öffnen, um das kostbare Innenleben zu betrachten. Erzählerstimmen eines nebenher laufenden Films sprachen auf Englisch und Deutsch vom Wesen des „Seelenvogels“.
Viel los in der Innenstadt
Vor der Riva-Bar in der Kirchstraße saßen Gäste im Freien. Drinnen explodierte die malerische Kraft von Ann-Kathrin Durach. Die 1987 geborene Künstlerin, ein Gewächs der Jugendkunstschule Bad Saulgau, soll schon als Siebenjährige angefangen haben, ihren Kunststil zu entwickeln. Momentan mache sie hauptberuflich Kunst, sagt die große, schwarz gekleidete Frau, die Hotel- und Gastronomiemanagement studiert hat.
Doro Herbst-Graf zeigte in ihrem Atelier in der Roßstraße neueste Werke. Ein weißes Bergtier in Regenbogenlandschaft aus verwischter Ölkreide wirkte übersinnlich verklärt. Herbst-Graf erinnerte sich an die erste Kunstnacht 2004: „Man hat sich vorher getroffen, um das Konzept zu besprechen. Jetzt musste ich mich nur anmelden.“Die Galerie roß+rosen, die – neonbeleuchtet – wie eine Halle erscheint, stellte drei Künstler aus: Wilhelm Maczkowski, Hans-Jürgen Bonack und Graham King mit seinen surrealistisch angehauchten Ravensburger Türmen. Die Kirche Sankt Jodok wirkte durch weggeräumte Bänke nahezu revolutionär. Am runden Tisch wurde gearbeitet. Auf Karteikarten waren bereits Ideen notiert. Heute und in den folgenden Wochen können Besucher im Rahmen des Projekts „Freiraum“sagen oder malen, womit sie gerne einen Raum in der Kirche füllen würden. In der Markthalle vor dem Figurentheater sah man selig Lauschende: Das Ensemble „Diapasón“sang fünfstimmig „Der Mond ist aufgegangen“. Mit seinen Objekten aus Kunstharz tauchte Marcel Martetschläger das Figurentheater in ein kosmisches Licht.
Viele Menschen drängten sich auch in der Marktstraße im Buchladen von Anna Rahm. Im dortigen Hinterzimmer flößte ein in Birnenund Eichenholz geschaffenes, tanzendes Paar von Raimund Löhr Respekt ein. An der Kurve zur Burgstraße ließ die Nacht noch massig Raum für den Besuch der städtischen Museen, der Galerie 21.06 oder für Jugendkunst im festlich beleuchteten Obertorturm.