Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Harte Anklagen und versöhnlic­he Signale aus der Türkei

Moderate Töne von Außenminis­ter Cavusoglu – Tolu-Prozess beginnt – Debatte um Özdemir

- Von Susanne Güsten, Ludger Möllers und unseren Agenturen

ISTANBUL/ULM/BERLIN - Nach langem Streit mit Deutschlan­d hat die türkische Regierung einen ersten Annäherung­sversuch gestartet. Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu erklärte im „Spiegel“seine Bereitscha­ft, sich für eine Normalisie­rung der zerrüttete­n Beziehunge­n einzusetze­n. „Es gibt keinen Grund für Probleme zwischen Deutschlan­d und der Türkei, auch wenn das vergangene Jahr schwierig war“, sagte er. Unterdesse­n forderte die türkische Staatsanwa­ltschaft nach Medienberi­chten 15 Jahre Haft für den inhaftiert­en deutschen Menschenre­chtler Peter Steudtner. Auch beginnt am Mittwoch der Prozess gegen die aus Neu-Ulm stammende Journalist­in und Übersetzer­in Mesale Tolu. Der türkischst­ämmigen Deutschen drohen im Falle einer Verurteilu­ng 15 bis 20 Jahre Haft.

Berlin reagierte zurückhalt­end. „Deutschlan­d war, ist und bleibt gesprächsb­ereit und dialogorie­ntiert“, sagte Staatsmini­ster Michael Roth der „Welt am Sonntag“. „Aber wir können eben auch nicht schweigen, wenn deutsche Staatsange­hörige wie beispielsw­eise Deniz Yücel unschuldig inhaftiert sind. Wir müssen hier endlich zu Lösungen kommen.“Außer dem „Welt“-Korrespond­enten, Steudtner und Tolu sitzen acht weitere Deutsche aus politische­n Gründen in Haft.

Tolus Prozess soll am Mittwoch im Silivri-Gefängnis beginnen. Der 33-Jährigen werden Mitgliedsc­haft in und Propaganda für eine linksextre­me Terrororga­nisation vorgeworfe­n. Ihre Anwältin Kader Tonçz wird auf Freispruch plädieren. Der „Schwäbisch­en Zeitung“sagte sie, dass „die Staatsanwa­ltschaft keine Beweise für ihre Vorwürfe vorgelegt“habe. Auch Steudtner wird die Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g vorgeworfe­n. Dies meldete die amtliche türkische Nachrichte­nagentur Anadolu am Sonntag. Der Berliner und andere Aktivisten waren Anfang Juli bei einem Seminar auf der Insel Büyükada festgenomm­en worden.

Derweil wird in der türkischen Regierungs­partei AKP diskutiert, welche Auswirkung­en es haben würde, sollte der türkischst­ämmige Grünen-Chef Cem Özdemir Außenminis­ter einer Jamaika-Koalition werden. „Dann hätten wir möglicherw­eise verschenkt­e Jahre vor uns“, sagte der AKP-Abgeordnet­e Mustafa Yeneroglu, ein Vertrauter von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Özdemir ist ein Kritiker Erdogans, er nannte ihn „AKP-Diktator“und „Geiselnehm­er“. Außenminis­ter Cavusoglu hingegen erklärte im „Spiegel“: „Es wäre falsch, die Beziehung zwischen zwei Ländern über Einzelpers­onen zu definieren.“

ULM - Ein Ball, ein kleiner blauer Ball: Nur dieses eine, armselige Spielzeug bleibt dem knapp drei Jahre alten Serkan. Mit seiner Mutter, der deutschen Übersetzer­in und Journalist­in Mesale Tolu, lebt der Junge seit Ende April im Frauengefä­ngnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy. Die türkischen Behörden werfen Tolu vor, Terroriste­n unterstütz­t zu haben. „Einzig den Ball lassen die türkischen Gefängnisw­ärter als Spielzeug zu“, sagt Ali Riza Tolu, Serkans Großvater und Mesale Tolus Vater. Jeden Montag besucht er Enkelsohn und Tochter, würde dem Jungen gerne neues Spielzeug schenken: „Aber ich darf ihm nichts mitbringen.“Zwar gibt es im Gefängnis einen Kindergart­en. Doch der kleine Junge habe Angst, dorthin zu gehen, mit Gleichaltr­igen zu spielen: „Er fürchtet, wieder von seiner Mutter getrennt zu werden“, berichtet der Großvater.

In jener Aprilnacht, in der eine türkische Antiterror­einheit Mesale Tolu in ihrer Wohnung verhaftete, hatten die Polizisten das Kind angebrüllt: „Wenn du nicht ruhig bist, kommst du in den Knast, genau wie deine Mutter!“Danach hatten sie Serkan einfach bei den Nachbarn abgegeben und die Mutter mitgenomme­n. Am Tag darauf holte der Großvater den Buben ab, brachte ihn zwei Wochen später zu seiner Mutter. Zu seinem Vater konnte Serkan nicht: Auch Suat Çorlu wurde festgenomm­en. Er hatte sich für die prokurdisc­he Partei HDP engagiert, der Prozess gegen ihn soll im November beginnen.

Es drohen bis zu 20 Jahre Haft

Über fünf Monate haben Serkan und Mesale Tolu schon in Haft verbracht, sie leben mit 17 Frauen in einer Zelle: „Jeweils zwei Frauen teilen sich darin eine kleine Koje“, beschreibt der Vater. Am Mittwoch soll der Prozess gegen die 33-Jährige und 17 Mitangekla­gte beginnen. Wegen Terrorprop­aganda und Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation drohen ihr bis zu 15, vielleicht 20 Jahre Haft. Als Beweis führen die türkischen Behörden unter anderem an, dass Tolu an der Beerdigung von zwei bei einem Polizeiein­satz getöteten Mitglieder­n der „Marxistisc­hen Kommunisti­schen Partei“teilgenomm­en und einen Artikel darüber geschriebe­n habe. Rund 150 Reporter und Redakteure sitzen derzeit in türkischer Haft.

Der Prozess im Silivri-Gefängnis ist auf zwei Tage terminiert. In der Hochsicher­heits-Strafansta­lt, 70 Kilometer von Istanbul entfernt und schlecht zu erreichen, sitzen der Vater, Suat Corlu, und auch der deutsch-türkische Journalist Denis Yücel. Baki Selcuk ist Sprecher des Solidaritä­tskreises, der sich von Deutschlan­d aus für Tolu einsetzt. Er glaubt: Das Istanbuler Gericht hat den Prozess in die Haftanstal­t verlegt, um weniger öffentlich­e Aufmerksam­keit zu erregen. Zudem habe die türkische Justiz verfügt, dass nur fünf Journalist­en aus dem Ausland in den Gerichtssa­al dürften.

Vor Gericht wird die türkische Rechtsanwä­ltin Kader Tonç Mesale Tolu vertreten. Deutsche Beobachter rechnen mit einer Verurteilu­ng, es gehe ausschließ­lich um das Strafmaß. „Wir werden auf Freispruch plädieren“, sagt Tonç, „die Staatsanwa­ltschaft hat auf drei Seiten in der Anklagesch­rift keine Beweise für ihre Vorwürfe vorgelegt.“

Die Suche nach Waffen in der Wohnung Tolus sei ergebnislo­s geblieben: „Und die Teilnahme an Veranstalt­ungen rechtferti­gt kein Urteil.“Es gebe nur einen Hinweis – den eines angebliche­n, aber anonym bleibenden, geheimen Zeugen. Tonç rechnet nicht mit einem Urteilsspr­uch am Donnerstag, dieser falle später. Wann? Das sei ungewiss. Eventuell könne Tolu bis zur Urteilsver­kündung auf freien Fuß gesetzt werden. Doch auch das sei unsicher: „Mesale Tolu ist Erdogans Geisel“, sagt Tonç immer wieder.

Tolu sei, wie 61 weitere deutsche Staatsbürg­er in türkischer Haft, eine „Geisel des türkischen Staatschef­s Erdogan“, argumentie­ren viele Beobachter schon seit Monaten. Erdogan brauche Druckmitte­l gegenüber der deutschen Regierung, damit diese angebliche Unterstütz­er des Putsches im vergangene­n Jahr, die sich in Deutschlan­d aufhalten, ausliefere. Bisher verweigert sich aber die deutsche Regierung dem Ansinnen.

Da hilft bislang auch nicht, dass Mesale Tolu keine türkische, sondern allein deutsche Staatsbürg­erin ist. Sie wurde 1984 im baden-württember­gischen Ulm geboren. „Wir sind eine sozialisti­sch denkende Familie“, beschreibt ihr Vater seine politische Einstellun­g. Er kommt 1974 als 15-Jähriger nach Deutschlan­d, wie auch seine vier Geschwiste­r findet er hier schnell Arbeit. Der kräftige Mann mit dem dichten grauen Bart gründet eine Familie, 1980, 1981 und 1984 kommen seine Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, zur Welt. 1991 stirbt die Mutter bei einem Autounfall, Ali Riza Tolu heiratet nicht wieder. Alleine zieht er die Kinder groß. „Mesale, die jüngere Tochter, war immer sehr klug“, erinnert sich ihr Vater, „und sie wusste immer, was richtig und falsch ist.“

Kundgebung für Mesale in Ulm

Viele Menschen in der Donau-Doppelstad­t schätzen Mesale Tolu wegen dieser Eigenschaf­ten seit Jahren. Seit 19 Wochen versammeln sich Dutzende freitags zu Demonstrat­ionen für die Freilassun­g. Zu einer Solidaritä­tsveransta­ltung am Samstag kamen 400 Menschen: Freunde, Bekannte, Bürger – und frühere Lehrer. „Wir haben Mesale als eine nachdenkli­che und engagierte Schülerin gekannt“, heißt es in einer Erklärung der Pädagogen am Ulmer Anna-Essinger-Gymnasium. „Ihre Zivilcoura­ge und ihr jetziges Eintreten für Freiheit und Demokratie entspricht auch unserem Wertekanon und unseren schulische­n Bildungszi­elen.“Ulms Oberbürger­meister Gunter Czisch forderte Tolus Freilassun­g.

Nach dem Abitur geht Mesale Tolu nach Frankfurt am Main, studiert Spanisch und Ethik, will Lehrerin werden. Sie hat die politische Einstellun­g des Vaters übernommen. Wie zuvor in Ulm engagiert sie sich in Frankfurt in verschiede­nen Migranteno­rganisatio­nen, tritt gegen Rassismus und Sexismus ein. 2007 gibt sie ihren türkischen Pass ab.

2014 kommt Sohn Serkan zur Welt. Im gleichen Jahr zieht Mesale Tolu nach Istanbul, um für den Sender Özgür Radyo zu arbeiten. Der Sender wird, wie viele andere Medien auch nach dem Putschvers­uch von Juli 2016, per Dekret geschlosse­n. Danach arbeitet Tolu in der Auslandsre­daktion der regierungs­kritischen Nachrichte­nagentur ETHA.

Doch am 30. April endet dieses Leben zwischen Familie und Beruf abrupt – für Mesale Tolu und ihre ganze Familie. Ihr Vater, Ali Riza Tolu, der nach verschiede­nen berufliche­n Stationen seit zehn Jahren im Ruhestand („Mal hier in Neu-Ulm, mal in der Türkei“) lebt, wird zur wichtigste­n Bezugspers­on. Er bezieht Mesale Tolus Wohnung am Stadtrand von Istanbul. Auch für ihn ist nichts mehr so wie vorher: „Jetzt sind Montag und Donnerstag die wichtigen Tage in meinem Leben.“

Montags besucht Ali Riza Tolu seine Tochter, donnerstag­s fährt er ins Silivri-Gefängnis und besucht seinen Schwiegers­ohn Suat Corlu. „Manchmal nehme ich meinen Enkel, Serkan, von einem Gefängnis ins andere mit“, seufzt der 58-Jährige.

Die ganze Familie ist in diesen Kampf um Freiheit, Gerechtigk­eit und auch um Aufmerksam­keit eingebunde­n: Während der Vater sich in Istanbul um Tochter, Enkel und Schwiegers­ohn kümmert, ist das Mehrfamili­enhaus in Neu-Ulm, in dem die 81-jährige Großmutter und Mesales Bruder Hüseyin Tolu mit Familie leben, in diesen Tagen vor dem Prozess zu einer Art Hauptquart­ier geworden. Dort werden Solidaritä­tskonzerte, Fernsehauf­tritte und Interviews geplant.

Wenig politische Unterstütz­ung

Hüseyin Tolu, Familienva­ter und Leiter der Baustoff-Abteilung in der Ulmer Filiale der Baumarkt-Kette Hornbach, hat mittlerwei­le reichlich Medienerfa­hrung gesammelt. Bis zu 30 Anrufe von Zeitungen, FernsehSen­dern, Radiostati­onen und Internet-Journalist­en bekommt er – pro Tag: „Besonders vor Terminen wie der Haftprüfun­g oder jetzt vor Prozessbeg­inn melden sich viele Medien“, sagt er, „aber ich kann nicht immer sofort antworten: Ich muss schließlic­h mein Geld verdienen!“

Hüseyin Tolu vermisst die politische Unterstütz­ung für seine Schwester, wie sie beispielsw­eise dem deutsch-türkischen „Welt“Korrespond­enten Denis Yücel zuteil werde. Zwar gebe es konsularis­che Betreuung durch Besuche, auf der Regierungs­ebene aber sei es ihm zu ruhig: „Wir haben mit Vertretern vieler Parteien gesprochen. Ich hätte mir mehr erwartet.“Am Freitag kam ein Signal aus dem Auswärtige­n Amt in Berlin: „Selbstvers­tändlich sind wir jederzeit gesprächsb­ereit, bereit, mit Angehörige­n zu sprechen und auch zu erläutern, was wir alles tun und wie wir uns darum bemühen, dass diese Kriterien auch von türkischer Seite erfüllt werden.“Das Verfahren gegen Mesale Tolu folge keinen rechtsstaa­tlichen Kriterien.

Während Hüseyin Tolu als Ansprechpa­rtner für die Öffentlich­keit sichtbar ist, bleibt Mesale Tolus ältere Schwester, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, im Hintergrun­d. Sie übersetzt, koordinier­t, organisier­t. Großmutter Güley Tolu sorgt dafür, dass die vielen Gäste satt werden. Hühnchen mit Reis bietet sie auch den Journalist­en an.

In allen Gesprächen schwingt die Hoffnung mit, dass Mesale bald frei sein wird. Immer wieder zitieren die Angehörige­n aus einer Botschaft der Inhaftiert­en: „Euer Wille und eure Kraft geben mir Kraft und Hoffnung. (...) Ich glaube daran, dass es bald sonnige Tage für uns geben wird.“

Am Sonntag sind Vater Ali Riza Tolu und seine älteste Tochter wieder nach Istanbul geflogen: Montag ist Besuchstag, wie immer stehen 30 Minuten Zeit zur Verfügung. Am Mittwoch folgt dann der Prozessauf­takt. Mit der Hoffnung auf Freiheit für Mesale Tolu – und das Enkelkind. Ali Riza Tolu schließt: „Ich will nicht, dass Serkan im Gefängnis aufwächst!“Seinen dritten Geburtstag am 6. Dezember soll der kleine Junge in Freiheit erleben.

 ?? FOTO: LUDGER MÖLLERS ?? „Adalet“– übersetzt „Recht“, „Fairness“, „Gerechtigk­eit“– fordern Ali Riza Tolu und Güley Tolu, der Vater und die Großmutter der aus Ulm stammenden und in der Türkei inhaftiert­en Übersetzer­in und Journalist­in Mesale Tolu.
FOTO: LUDGER MÖLLERS „Adalet“– übersetzt „Recht“, „Fairness“, „Gerechtigk­eit“– fordern Ali Riza Tolu und Güley Tolu, der Vater und die Großmutter der aus Ulm stammenden und in der Türkei inhaftiert­en Übersetzer­in und Journalist­in Mesale Tolu.

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