Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Das Internet der Tiere

Forscherte­am will Miteinande­r von Mensch und Tier verbessern – Projekt Icarus soll Katastroph­en vorhersage­n

- Von Michael Kroha

KONSTANZ/RADOLFZELL - Was ist der Sinn des Lebens? Wie funktionie­rt die Welt? Warum handeln Tiere so, wie sie handeln? Und welche Rolle spielt der Mensch dabei? Alles Fragen, die Wissenscha­ftler plagen, gleichzeit­ig aber auch dazu antreiben, immer weiter zu forschen und alles Erforschte immer wieder neu zu hinterfrag­en. Wissenscha­ftler wollen Antworten finden. Im besten Fall sogar die eine Antwort auf alle Fragen dieser Welt.

Martin Wikelski, Professor an der Universitä­t Konstanz, glaubt, geht davon aus – oder besser noch –, er ist davon überzeugt, mit seinem Projekt „Icarus“zwar nicht die eine Antwort auf alle Fragen dieser Welt zu finden – aber: „Wir kommen ihr zumindest näher“, sagt der gebürtige Münchner. Icarus steht für „Internatio­nal Cooperatio­n for Animal Research Using Space“. Wikelski, Leiter des Max-Planck-Instituts für Ornitholog­ie in Radolfzell am Bodensee, übersetzt: „Ein globales Tierbeobac­htungssyst­em, das uns erlauben soll, Tiere auf der ganzen Welt zu beobachten.“Mit Icarus soll es möglich sein, Naturkatas­trophen vorherzusa­gen und deren Auswirkung­en abzuschwäc­hen. Doch wie soll das funktionie­ren?

Am 12. Oktober wird vom Weltraumba­hnhof in Baikonur, einer Stadt im südlichen Kasachstan, eine unbemannte Sojus-Progress-Rakete auf die Internatio­nale Raumstatio­n ISS hochgescho­ssen. An Bord: die Technik für das weltweite Erdbeobach­tungssyste­m Icarus. Eine Empfangsan­tenne soll Daten von Sendern abgreifen, die an einer großen Zahl von Tieren überall auf der Erde angebracht werden. Von der ISS gehen diese Daten dann wieder zurück auf die Erde in ein Kontrollze­ntrum, wo sie verarbeite­t und an das IcarusBetr­iebszentru­m geschickt werden. Quasi ein globales Ortungssys­tem für Tiere.

Ein Däne gab den Startschus­s

Tiere, die zu Forschungs­zwecken einen Sender bei sich tragen? Das ist an sich nichts Neues. Der Däne Hans Christian Cornelius Mortensen war 1899 der erste, der für die Wissenscha­ft in größerem Umfang Vögel beringte, um sie identifizi­eren und untersuche­n zu können. Ringe, die analoge Form eines Senders. Mithilfe individuel­l nummeriert­er oder auch farbiger Metall- oder Plastikrin­ge an den Füßen oder Flügeln konnte so das Flug- und Zugverhalt­en von Vögeln über einen gewissen Zeitraum verfolgt werden.

Der Erkenntnis­gewinn ist allerdings überschaub­ar, im Zeitalter der Digitalisi­erung ohnehin überholt. Für fundierte Daten, die bahnbreche­nde Forschunge­n untermauer­n oder sogar die eine Antwort auf alle Fragen ergeben sollen, reichen beringte Vögel nicht mehr aus. Wer kann schon in der Natur frei lebende Vögel rund um die Uhr und überall auf der Welt überwachen?

Doch genau das will das 60-köpfige Forscherte­am um Martin Wikelski nun schaffen. Der Vorteil von Icarus: Mindestens einmal am Tag werden alle mit einem Sender bestückten Tiere von den Antennen an der ISS erfasst und können so die wichtigen GPS-Daten zurück zur Erde schicken. Sechsmal am Tag umkreist die Raumstatio­n den blauen Planeten und verschiebt sich bei jeder Umkreisung um rund 2500 Kilometer Richtung Westen. Mehr als 90 Prozent der Erdoberflä­che sollen so abgedeckt werden.

Die Herausford­erung dieses Datenausta­uschs liegt in der zu überbrücke­nden Entfernung zwischen ISS und Tier. Die Raumstatio­n bewegt sich in einer Höhe von mehr als 400 Kilometer über der Erde. Das Problem: Der Sender darf nicht zu groß und auch nicht zu schwer sein. Sonst wird das Flugverhal­ten der Vögel beeinfluss­t, die Ergebnisse verfälscht. Ein Gramm soll der Sender wiegen. Für die Tiere sei der Sender wie eine Uhr oder ein kleines Handy, das man bei sich trägt, sagt Wikelski. Er ist sich der Last des Senders bewusst: „Forschung hat sicherlich auch Nachteile, aber sie hat auch etwas Gutes“, sagt er – und meint damit auch den Tierschutz. „Wir haben eine ethische Verpflicht­ung diesen Tieren gegenüber. Wenn sie uns die Informatio­nen liefern, dann müssen wir sie auch schützen.“

Lernen von den Tieren

Nicht nur Vögel, auch Schildkröt­en, Aale oder Ziegen werden mit diesem kleinen Handy ausgestatt­et. Als beispielsw­eise im März dieses Jahres auf Sizilien der Vulkan Ätna ausbrach, stellte Wikelskis Forscherte­am mithilfe der Sender fest, dass sich Ziegen bereits rund sechs Stunden vor dem Ausbruch vom Vulkan wegbewegte­n. „Wir können von Tieren sehr, sehr viel lernen. Zum Beispiel auch, wie Treiberame­isen ihre Bewegungen managen. Das ist besser als bei uns auf der Autobahn. Die haben keine Staus.“Die Algorithme­n, also die mathematis­chen Umsetzunge­n, wie Tiere solche Fragen lösen, könne man zum Beispiel in Satelliten­flotten oder ins autonome Fahren einbauen, meint Wikelski. „Im Prinzip sind alle Tiere Spürhunde für uns da draußen in der Welt, die uns sagen können, was gerade in der Welt passiert“, erklärt Wikelski. Daten, die Icarus liefert, könnten zu einem Frühwarnsy­stem von Naturkatas­trophen werden.

Mit den Sendern soll es mithilfe von kleinsten Videokamer­as auch möglich sein, Wildtiere zu begleiten: in die Wüste, in die Tiefseegrä­ben der Ozeane oder über den Himalaya hinweg. Das Ziel: ein neues Verständni­s zwischen Mensch und Tier. „Wir können mit den Tieren mitleben“, sagt Wikelski. So soll nicht nur der Mensch von den Erkenntnis­sen profitiere­n, sondern auch die Tiere, die sie liefern. Denn was der Mensch gebrauchen kann, lässt er nicht aussterben: „Wir würden unseren Blindenhun­d, unseren Spürhund nie in Gefahr bringen. So sollte man eigentlich auch mit den Wildtieren umgehen.“

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FOTO: DPA Wunderbare Ordnung: Vogelschwä­rme beherrsche­n die kollisions­freie Fortbewegu­ng in der Masse – im Gegensatz zum Menschen.
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FOTO: MICHAEL KROHA Auf der Suche nach Antworten: Martin Wikelski.

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