Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mongolisch­es Ehrenwort!

Eine Migrations­geschichte an den Münchner Kammerspie­len

- Von Jürgen Berger

MÜNCHEN - Es gibt ein Fotografie, da sitzt die kleine Uisenma auf einem gepackten Rucksack. Es ist das Bild einer Migrations­biographie, die von Ulan Bator in der Mongolei über ein Ost-Berlin kurz vor dem Mauerfall in die Wirren der deutschen Wiedervere­inigung und von dort an die Münchner Hochschule für Film und Fernsehen weist. Inzwischen ist Uisenma Borchu eine preisgekrö­nte Filmemache­rin. An den Münchner Kammerspie­len hat sie nun ihr Debüt als Theaterreg­isseurin gegeben und einen Text zur eigenen Migrations­geschichte zur Uraufführu­ng gebracht. Mit dabei: ihr Vater, der Maler Borchu Bawaa.

Auf der Bühne stehen vier Projektion­sflächen, auf denen Bilder aus dem Leben der Autorin und Regisseuri­n zu sehen sind. Man bekommt einen Eindruck von der Weite der mongolisch­en Steppe. Hier, in diesem Gebiet, das einst zur Sowjetunio­n gehörte, lebt die nomadische Bevölkerun­g in Jurten und reitet auf Pferden durch die Steppe.

Gesellscha­ftsbild Deutschlan­ds

Auf einer Leinwand arbeitet derweil Borchu Bawaa an einem großformat­igen Gesellscha­ftsbild Deutschlan­ds. Viele Menschen in Schwarz-RotGold, die wohl gerade den Mauerfall erleben. Im Hintergrun­d leuchtet eine Sonne in Rotorange, von der man nicht weiß, geht sie unter oder auf.

Der Vater ist ein Künstlerfe­ls in der Brandung und arbeitet unbeirrbar an der Vollendung seines Werks, auch wenn es hinter ihm gerade um sein inniges Verhältnis zur Tochter geht. Das ist irritieren­d, weil man in so einem Fall Reaktionen des Vaters erwartet, also Anteilnahm­e, Widerspruc­h oder ein Lächeln des Wiedererke­nnens. Es ist aber auch nachvollzi­ehbar, dass da einer so stoisch arbeitet. Schließlic­h ist der Mann eine Kunst-Performanc­e in einer Uraufführu­ng, mit der sich seine Tochter Uisenma Borchu auf die familiäre Emigration­sgeschicht­e, sich selbst und die Zeit nach der Ankunft in Deutschlan­d konzentrie­rt.

Blinde Flecken

Es war eine schwierige Situation, damals nach dem Mauerfall. Sie wurde als „Schlitzaug­e“denunziert, eignete sich ein dickes Fell an und schlug gelegentli­ch zurück. Wir sehen ein Mädchen, für die der Vater war, was er auch auf der Bühne ist: ein Orientieru­ngspunkt, der der Tochter Halt gibt, auch wenn sie gesteht, sie habe sich „mit denen gekloppt“. Er sagt dann: „Zeig doch mal!“und „Wow, aber du musst aufpassen!“. Aber er macht die Tochter auch darauf aufmerksam, dass sie sich mit ihrer Widersache­rin versöhnen solle: „Du musst Freunde machen ... versprichs­t du’s mir? Mongolisch­es Ehrenwort!“

Die Leistung der familiären Dokumentat­ion besteht darin, dass der sogenannte Biodeutsch­e sehr direkt vermittelt bekommt, was er alles ausblendet, wenn er von morgens bis abends von Integratio­n und davon redet, das sei eine Pflichtauf­gabe jedes Flüchtling­s und jeder Migrantin. Wie, so die Frage, soll ein Mädchen wie die kleine Uisenma damit umgehen, dass sie in einem der Häuser lebt, vor dem ein fremdenfei­ndlich rassistisc­her Mob pöbelt und darauf zählen kann, dass die Polizei nicht eingreift? Muss sie das nicht als Aufforderu­ng verstehen, genau das nicht zu tun, was man landläufig „integriere­n“nennt? Und was soll man von einer Lehrerin halten, die ein Leben verkörpert, in das die Schülerin aus der Mongolei hineinwach­sen will, während dieselbe Lehrerin das Mädchen benachteil­igt und kleinmacht?

Uisenma Borchu hat sich durchgeset­zt, trotz alledem. Sie ist Künstlerin geworden und gibt der ehemaligen Lehrerin in „Nachts, als die Sonne schien“großen Raum. Die alles andere als pädagogisc­h wertvolle Paukerin ist der defätistis­che Gegenpol zum Vater, der die Tochter in allem unterstütz­t, auch in ihrer poetischen Kreativitä­t.

Die Lehrerin wird von Araba Walton dargestell­t. Die Sängerin und Schauspiel­erin wirkte im Hamburger Musical „König der Löwen“mit und arbeitet für Film und Fernsehen. Bühnenerfa­hrung scheint ihr zu fehlen. Wie anders wäre zu erklären, dass sie demonstrat­iv herablasse­nde Pädagogik-Attitüden zur Schau stellt und den Eindruck erweckt, ihr klischeeha­ftes Spiel sei das Ergebnis eines Unvermögen­s.

Klassische­s Einfühlthe­ater

Lea Johanna Geszti und Christian Löber sind hingegen Schauspiel­profis, die als Vater- und Tochter-Double klassische­s Einfühlthe­ater anbieten, immer wieder aber aus den Rollen treten und zu Beobachter­n werden. Uisenma Borchu selbst steht auf der Bühne. Sie ist eine angenehm unprätenti­öse Spielleite­rin und quasi die innere Stimme der heranwachs­enden Uisenma. Und natürlich ist da auch Borchu Bawaa, der einfach er selbst ist und einen Eindruck davon vermittelt, was die derzeit so viel beschworen­e Bühnen-Authentizi­tät sein könnte, wäre sie nicht nur eine Fiktion.

Weitere Aufführung­en am 12. und 27. 10., 14., 23. und 26.11. www.muenchner-kammerspie­le.de Kartentele­fon: (089) 233 966 00

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FOTO: JOSEF BEYER Die Autorin Uisenma Borchu (rechts) betrachtet eine Situation aus ihrem Leben, die sie selbst erlebt hat: Die Lehrerin (Araba Walton, links) maßregelt die junge Uisenma (Lea Johanna Geszti).

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