Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Gerichte kommen mit Asylklagen kaum mehr nach
Wegen niedriger Anerkennungsquoten wählen Geflüchtete zunehmend juristischen den Weg – Land reagiert mit zusätzlichen Richterstellen
RAVENSBURG - Ein kleiner Junge aus Gambia geht mit seinen Eltern in den Senegal. Sie betreiben dort Landwirtschaft. Zweimal wird die kleine Familie von Rebellen heimgesucht – sie wollen Schutzgeld erpressen. Doch der Stiefvater kann die Männer nicht bezahlen. Beim dritten Aufeinandertreffen bringen sie ihn um, seine Frau vergewaltigen sie. Der kleine Junge wird in ein Erdloch gesteckt – monatelang halten sie ihn gefangen. Die Toilette ist ein Eimer. Er ist sieben Jahre alt, als das passiert.
Irgendwann holen ihn die Rebellen aus seinem Verlies, machen ihn mit Drogen und Alkohol gefügig. Sie bilden ihn zum Kindersoldaten aus. Doch der Junge kann fliehen. Er kehrt nach Gambia zurück, doch da ist niemand mehr. Seine Mutter ist verschwunden, vielleicht tot. Er weiß es nicht. Er kehrt Gambia den Rücken und nimmt eine Odyssee auf sich – nach Deutschland.
„Sein Asylantrag wurde vom Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (Bamf) abgelehnt“, sagt Barbara Missalek, die die Geschichte des jungen Gambiers erzählt. Die 79-Jährige betreut seit 1985 Flüchtlinge im Ravensburger Asylkreis, hilft ihnen in allen Lebenslagen, auch seit jeher bei Klagen gegen abgelehnte Asylanträge. „Das ist nichts Neues“, sagt sie. „Ich kann das nicht haben, wenn jemand ungerecht behandelt wird“, erklärt sie ihre Gründe für die aufopfernde Arbeit.
Die Ablehnung des Asylantrags des Gambiers ist für sie völlig unverständlich. „Einer der Gründe des Ministeriums war, dass Rebellen keine Kinder als Soldaten nehmen würden“, erzählt sie. „Er hat es ihm einfach nicht geglaubt“, so Missalek über den Behördenmitarbeiter, der das Gespräch mit dem Gambier geführt hatte. Gegen die Ablehnung hat er Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht in Sigmaringen eingereicht. Damit ist er einer von rund 5500 Flüchtlingen (Stand September 2017), die zurzeit ein Verfahren in Sigmaringen laufen haben. Zum Vergleich: Ende September 2016 waren es noch 1850 Fälle.
„Wir liegen da voll im Bundestrend“, erklärt Otto-Paul Bitzer, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Sigmaringen. Die Zahlen an Asylverfahren seien bundesweit in den vergangenen Jahren exorbitant gestiegen. Aufgrund der vielen Verfahren seien auch die Stellen aufgestockt worden. „Wir hatten 2012 noch 19 Richterposten bei uns, seit August dieses Jahres sind es 27.“Doch die Richter müssen außer den vielen Asylklagen noch Verfahren zu beispielsweise Baurecht oder Ausbildungsförderung abarbeiten. „Wir sind bemüht und auch daran interessiert, diese Sachen nicht liegen zu lassen“, so Bitzer. Es komme aber schon zu Zielkonflikten. Wie lange ein Asylverfahren dauert, kann er nicht abschätzen. „Jedes ist anders“, sagt er.
Auf die stark gestiegene Menge der Asylverfahren hat bereits im vergangenen Jahr das Justizministerium Baden-Württemberg reagiert und zusätzliche 26 Richterstellen geschaffen, wie das Ministerium auf Anfrage mitteilt. Für den Doppelhaushalt 2018/19 seien zudem weitere 55 neue Stellen eingeplant, davon seien 24 für Richter vorgesehen. Der Rest: Sachbearbeiter. Justizminister Guido Wolf (CDU) schreibt in einer Stellungnahme, dass sich die Situation, nach dem ersten starken Anstieg 2016, in diesem Jahr „nochmals erheblich verschärft“habe. Weiter schreibt er, man komme nicht umhin, „auf diese dramatischen Zahlen zu reagieren“. Deshalb habe die Landesregierung bereits im August zusätzliche Stellen geschaffen.
Neuer juristischer Zweig
Auch die Bundesrechtsanwaltskammer hat gemeinsam mit dem Bundesministerium für Justiz 2015/16 bereits auf die Klageflut an den Verwaltungsgerichten reagiert. Das berichtet der Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Tübingen, Bernhard Kunath. Bei der bundesweiten Satzungsversammlung der Kammer im November 2015 hat das Gremium die Einführung des sogenannten Fachanwalts für Migrationsrecht beschlossen. Das Ministerium hat den Beschluss im März daraufhin in Kraft gesetzt. Ernannt wurde im Bezirk Ravensburg bislang noch keiner. „Das braucht immer ein wenig Anlaufzeit“, weiß Rechtsanwalt Kunath. Im kommenden Jahr rechnet er mit Anträgen. Um Fachanwalt zu werden, muss ein Kurs mit 120 Stunden belegt werden, müssen vier Klausuren geschrieben und 100 bearbeitete Fälle nachgewiesen werden. „Die konnte bislang noch keiner nachweisen.“
Geklagt wird nicht nur, wenn das Bamf einen Asylantrag komplett ablehnt, wie im Falle des jungen Gambiers. Vor allem viele Syrer klagen vor den Verwaltungsgerichten, weil sie den sogenannten subsidiären Schutz genießen, aber einen Flüchtlingsoder Asylstatus haben wollen. Der subsidiäre Schutz wird Menschen gewährt, denen in ihrem Herkunftsland unter anderem Lebensgefahr droht. Mit subsidiärem Schutz können Geflüchtete mittlerweile ihre Familien nicht mehr nachholen. Auch Freiburg kämpft mit einem stark gestiegenen Aufkommen an Klagen. Als Auslöser nennen Bamf und die Gerichte vor allem die Jahreszahl 2015, als der größte Zustrom an Flüchtlingen nach Deutschland stattgefunden hat. Daher seien auch die bearbeiteten Asylanträge des Ministeriums gestiegen, viele der abgelehnten sind daraufhin vor Gericht gelandet. „Syrer haben durchgängig den subsidiären Schutz bekommen“, weiß Klaus Döll, Richter am Verwaltungsgericht Freiburg. Grund hierfür ist der Bürgerkrieg im Herkunftsland. „Die Zahlen sind dramatisch und führen zu einer hohen Belastung bei uns. Wir können das nicht so schnell abarbeiten“, sagt er weiter.
Syrer klagen oft erfolgreich
Die Erfolgsquoten der Gerichtsverfahren in der Summe sind bundesweit laut Bamf gering. So hat es 2016 rund 70 000 Klagen vor deutschen Verwaltungsgerichten gegeben. Davon sind nur rund 13 Prozent positiv für die Klagenden ausgegangen. Im ersten Halbjahr dieses Jahres waren es nur 28 Prozent von rund 50 000 Klagen. Allerdings, so schreibt das Bamf in einer Stellungnahme, wurden viele Klagen vermehrt zugunsten der Flüchtlinge anerkannt, die bereits subsidiären Schutz hatten. Zahlen nennt das Ministerium dabei allerdings keine. Maßgeblich für den Ausgang sei außerdem, wie die aktuelle Situation im Herkunftsland des Antragsstellers sei.
Diese Erfahrung kennt Hermann Seifried, Fachanwalt für Sozialrecht in Wangen. Er betreut seit 30 Jahren Flüchtlinge vor den Verwaltungsgerichten. Vor allem Flüchtlinge aus dem Irak, aus Afghanistan, Gambia, Nigeria, Somalia, Eritrea und Äthiopien haben beim Bamf wenig Chancen, so seine Erfahrung. „Das sind fast immer Vollablehnungen“, sagt er. „Ganz oft unbegründet“, ergänzt Seifried. Das Ministerium gehe oftmals von wirtschaftlichen Gründen aus oder glaube schlichtweg die Fluchtgeschichten nicht. Die Fälle, die er bei Vollabgelehnten vertritt, seien alle noch offen.
Für ein lukratives Geschäft, mit Flüchtlingen vor Gericht zu ziehen, hält er das Ganze nicht. „Die Menschen zahlen 50 Euro Rate im Monat an mich. Wenn der Kläger Recht bekommt, zahlt das Verfahren der Staat und ich gebe ihnen die Ratenzahlungen zurück“, so der Anwalt. Außerdem: „Ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling, der ein Taschengeld von 80 Euro im Monat hat. Was glauben Sie, wie viel Geld Sie da bekommen?“Das könne der Anspruch nicht sein. Ob es für andere Anwälte ein lukratives Geschäft sei, wisse er nicht. Was er aber weiß, ist, dass die Syrer bislang alle die Flüchtlingseigenschaften von den Gerichten zugesprochen bekommen haben. „Das wird in Zukunft auch nicht anders laufen“, ist er sich sicher. Bei anderen Staatsangehörigen sieht das aber anders aus.
In Gambia beispielsweise herrscht nach 22 Jahren Diktatur nun ein gewählter Präsident der Oppositionsfraktion. Das Land also endlich in Frieden und Demokratie angekommen? Fraglich. Die neue Regierung noch zu frisch. Kann der junge Mann, der als Kind von Rebellen im Senegal gefoltert, gequält und zum Söldnerdienst gezwungen wurde, ohne Angst wieder in sein Heimatland zurück? Obwohl er keinen Bezug mehr zu seiner Heimat hat, weil seine Eltern umgebracht wurden oder verschwunden sind?
Noch läuft das Gerichtsverfahren in Sigmaringen. Wie es ausgeht, kann auch Barbara Missalek nicht abschätzen. „Aber man hat immer so ein Gefühl“, sagt sie aus ihrer langjährigen Erfahrung heraus. „Wir standen auch schon richtig dumm da, weil einer unserer Flüchtlinge gelogen hatte. Vor Gericht kam das dann raus“, sagt sie. Ihrem Gambier aber glaubt sie seine Geschichte – im Gegensatz zum Bamf. Es wundere sie, sagt sie nachdenklich, dass der junge Mann nicht extrem traumatisiert sei, nach so einer Erfahrung. Zumindest sage er nichts. Missalek: „Es geht ihm aber, glaube ich, gar nicht gut.“