Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Elefantenrunden waren echte Leckerbissen“
Politisch aufgewachsen mit der APO, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Franz-Josef Strauß, Joschka Fischer und den Demos an den Stacheldrahtzäunen der Kernkraftwerke, kommt mir das Grauen, wenn ich eine solche Aussage wie „Es darf keine Tabuzonen geben“lese, und ich mir ausmale, was in Berlin womöglich alles auf dem Altar der Macht geopfert wird. In meiner Jugend waren die Elefantenrunden vor und nach den Bundestagswahlen echte Leckerbissen und gaben Zeugnis davon, wie unterschiedlich, mitreißend und emotionsgeladen Politik sein kann. Heute sehen wir die Vertreter und Vertreterinnen der gewünschten Regierung gemeinsam und lachend (in Zeitlupe) die Flure heraufkommen, als stünde ihr gemeinsamer Flug zum Mond bevor. Abgefahrene Reifen gehören auf den Müll. Von einem Profil kann man aber nur sprechen, wenn klare und scharfe Unterschiede, Höhen und Tiefen erkennbar sind. So ist es im Straßenverkehr, und so muss es auch in der Politik sein.
Dort jedoch ist seit Jahren kaum noch etwas von „Profil“zu erkennen. Bei den momentanen Sondierungen und Verhandlungen besteht die Gefahr, dass die „Reifen“vollends verschlissen werden. Denn das wenige Profil, das die jeweiligen gewünschten (?) Koalitionspartner noch haben, muss und wird durch Kompromisse und „Tabubrüche“am Ende gegen null gehen.
Ich möchte daran erinnern, dass es die späteren Grünen waren, die in den 1960er-Jahren aus voller Überzeugung mit der APO gegen das Establishment in Bonn auf die Straße gingen. Was ist daraus geworden? Für Flüchtlinge darf es keine Obergrenze geben. Für Verrat aber braucht es unbedingt eine Untergrenze.
Stefan Weinert,
Ravensburg
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