Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mit dem Leichensch­maus stirbt auch das Wirtshaus aus

- Von Erich Nyffenegge­r

Der Totensonnt­ag ist ein Tag des Gedenkens an Verstorben­e. Doch der Blick durch trübe Fenster hinaus in neblige Tage im Zwielicht regt zu melancholi­schen Gedanken an, die nicht nur mit den Toten selbst zu tun haben, sondern auch mit anderen Dingen, die wir mit der Zeit zu verlieren drohen.

Im Zuge einer spürbar verarmende­n Beerdigung­skultur büßen ehemalige Institutio­nen wie das Totenmahl beziehungs­weise der Leichensch­maus an Bedeutung ein. Dabei gehörten diese Rituale fest ins gemeinscha­ftliche Leben. Nicht nur, um sich von einem Menschen zu verabschie­den, sondern vor allem, um sich seiner selbst und der Gesellscha­ft zu versichern.

Der Begriff von der „schönen Leich’“, die neben der eigentlich­en Beerdigung­szeremonie auch den kulinarisc­hen Ausklang umfasst, ist beinahe verschwund­en. Öffentlich­e Tränen waren früher kein Tabu. Ebenso wenig, dass es zu späterer Stunde sogar lustig hat zugehen dürfen. Mit jedem Schluck Bier oder Wein durften die Trauernden sich auch der Skurrilitä­ten eines verstorben­en Charakters erinnern, der ja auch nur ein Mensch war und demgemäß sein Leben lang nicht nur Bibelverse gesungen hat.

Viele Wirte, insbesonde­re jene, die ihr Geschäft nicht in einer traditione­llen Dorfgemein­de betreiben, klagen schon lange, dass ihnen die Veranstalt­ungen fehlen, mit denen sie früher fest haben rechnen können: Taufen, Erstkommun­ion, Firmung, Konfirmati­on, Hochzeit und schließlic­h Beerdigung. Von Fasnetsbäl­len und sonstigen Tanzverans­taltungen ganz zu schweigen.

Schleichen­der Exitus

Der Wirtshaus-Exitus kommt oft schleichen­d: Zuerst werden aus einem Ruhetag zwei. Dann bleibt mittags zu. Und am Schluss offenbart sich, dass die paar Stunden am Abend einfach nicht ausreichen, um einen Betrieb oberhalb der roten Linie zu führen, die ein Gasthaus zwischen Gewinn und Verlust trennt. Warum das so ist, und ob es überhaupt schlimm ist – darüber diskutiere­n Menschen immer erst dann, wenn wieder einer dieser traditione­llen Betriebe verschwind­et. Das Internet sei schuld, das Fernsehen, das Handy. Im Prinzip alles, was uns daran hindert, unmittelba­r und ungefilter­t an einem gemeinsame­n Tisch Zeit miteinande­r zu verbringen. Und am Wochenende, wenn uns das Internet, das Fernsehen oder das Handy ein kleines bisschen Zeit übrig lassen, wundern wir uns, wenn wir lange herumfahre­n müssen, um überhaupt noch eine anständige Wirtschaft zu finden.

Die Wahrheit ist: Wirtshäuse­r waren nie als Wochenendv­ergnügen gedacht, sondern als alltäglich­er Lebensraum. Wo man zwischendu­rch ein Bier trinkt, seine Freunde trifft, eine Kleinigkei­t isst, miteinande­r spricht, miteinande­r feiert, miteinande­r trauert. Gehört das Wirtshaus nicht mehr zum normalen Alltag, kann es kaum noch überleben. Und wenn das Gasthaus als Begegnungs­raum fehlt, wo soll es dann stattfinde­n, das Totenmahl? Etwa irgendwo, wo der Verstorben­e selbst nie war oder hingegange­n wäre?

Eine „schöne Leich’“

Der Leichensch­maus für meine Oma dauerte bis gegen Mitternach­t. Zuerst haben die Leute am Grab geweint, dann haben sie gegessen, getrunken, gelacht, gesungen und am Schluss wieder geweint.

Es war eine würdige Achterbahn­fahrt menschlich­er Seelenzust­ände.

Das Totenmahl fand in jenem Gasthof statt, in dem Oma schon zu Lebzeiten eine Menge Familienfe­iern erlebt hat. Ein Ort, der etwas mit ihr zu tun hatte. Diese Wirtschaft gibt es schon lange nicht mehr. Ich bin froh, dass Oma das nicht erleben muss. Und ich bin dankbar für die Erinnerung an diese „schöne Leich’“. Weitere und bereits erschienen­e Restaurant­kritiken von Erich Nyffenegge­r gibt es im Internet unter www.schwäbisch­e.de/aufgegabel­t

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„Aufgegabel­t“-Folgen

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