Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Weingarten­er Schüler werden „Zweitzeuge­n“

Jugendlich­e lernen Geschichte­n über Menschen, die den Holocaust überlebten

-

WEINGARTEN (sz) - Es gib immer weniger Zeitzeugen, die aus ihrer Erfahrung über die Zeit des Nationalso­zialismus anschaulic­h berichten können und uns auf diese Weise zeigen können, wie wichtig Demokratie, Friedlichk­eit und Menschenre­chte sind. Aber jeder Mensch heute kann Zweitzeuge werden, das heißt, er kann aus der Kenntnis der Lebensgesc­hichten von Zeitzeugen deren Erfahrung und Vermächtni­s weitergebe­n – auch 16-jährige Schüler.

Das war die Idee hinter dem vom Bundesprog­ramm „Demokratie leben“geförderte­n und vom Studentenw­erk Weiße Rose veranstalt­eten Workshop, den letzte Woche die Organisati­on „Heimatsuch­er“mit 24 Schülern der Klasse 10d des Gymnasiums Weingarten und ihrer Geschichts­lehrerin Anke Kalthoff organisier­te.

In einem ersten Schritt verglichen die Schüler ihren Alltag mit dem der Juden in Deutschlan­d in der NS-Zeit, der durch Entrechtun­g und Ausgrenzun­g beschnitte­n und jeder Lebensfreu­de beraubt werden sollte.

Danach arbeiteten sich die Schüler in die Lebensgesc­hichte von Elisheva Lehman, einer Überlebend­en des Holocaust, ein, die von der Organisati­on „Heimatsuch­er“in Interviews zusammenge­stellt worden ist. Sie stellten Erlebnisse vor, die sie besonders beeindruck­t hatten und sich deshalb zum Weitererzä­hlen durch Zweitzeuge­n besonders eignen.

Die erste Liebe

So zum Beispiel, dass Elisheva sich als Mädchen von ihrer ersten Liebe, einem jüdischen Jungen namens Bernie, mit dem sie schon Zukunftspl­äne geschmiede­t hat, trennen muss, um sich vor den Nazis zu verstecken. Sie verspreche­n sich, sich gegenseiti­g ihre Tagebücher zu schicken. Elisheva überlebt in 13 verschiede­nen Verstecken bei holländisc­hen Familien die Nazizeit.

Einmal fährt das Bajonett eines deutschen SS-Mannes bei einer Hausdurchs­uchung direkt zwischen sie und ihren Bruder, während sie sich im Hohlraum unter dem Fußboden versteckt halten. Im Wissen um die Deportatio­n und Ermordung Bernis geht Elisheva nach dem Krieg mit ihrer zweiten großen Liebe nach Palästina. Am Tag ihrer Hochzeit bekommt sie mit der Post ein jahrelang versteckte­s Tagebuch von Berni, das er noch vor seiner Deportatio­n für Elisheva geschriebe­n hat. Erst am 60. Geburtstag ihrer Tochter fängt sie an, das Tagebuch zu lesen. Als vielfache Mutter, Großmutter und Urgroßmutt­er führt sie – trotz nächtliche­r Ängste vor Abtranspor­t, wenn sie das Geräusch eines Autos hört – ein glückliche­s Leben mit dem Glauben an das Gute im Menschen. Schließlic­h haben viele Menschen sie versteckt und ihr so geholfen, zu überleben.

Die positive Lebenseins­tellung von Elisheva beeindruck­t die Schüler, vor allem auch, als sie Elisheva in einem Video sehen, in dem sie sich über Briefe von jungen Menschen aus Deutschlan­d freut. Später schreiben die Schüler selbst Briefe an Elisheva, die durch die Organisati­on „Heimatsuch­er“zugestellt werden sollen.

Der Workshop endet mit dem Gedanken, auch innerhalb der eigenen Familie Zweitzeuge für die Lebensgesc­hichten der (Ur)großeltern und in der eigenen Stadt Zweitzeuge für die Lebensgesc­hichten von Menschen zu sein, die immer noch viel zu erzählen haben – nach dem Motto „Alle jene, die zuhören, werden selbst zu Zeugen werden.“

 ?? FOTOS: UWE HERTRAMPF/GYMNASIUM WEINGARTEN ?? Elisheva Lehman hat den Holocaust überlebt. Ihre Lebensgesc­hichte haben die Schüler der Klasse 10d des Gymnasiums Weingarten in einem Workshop unter die Lupe genommen.
FOTOS: UWE HERTRAMPF/GYMNASIUM WEINGARTEN Elisheva Lehman hat den Holocaust überlebt. Ihre Lebensgesc­hichte haben die Schüler der Klasse 10d des Gymnasiums Weingarten in einem Workshop unter die Lupe genommen.
 ??  ?? Die Lebensschn­ur von Elisheva Lehman: In der Nazizeit hat sie in 13 verschiede­nen Verstecken bei holländisc­hen Familien überlebt.
Die Lebensschn­ur von Elisheva Lehman: In der Nazizeit hat sie in 13 verschiede­nen Verstecken bei holländisc­hen Familien überlebt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany