Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Durchbruch beim Brexit
Großbritannien akzeptiert Milliardenzahlung an die EU
BRÜSSEL (dpa/sbo) - Gut 15 Monate vor dem Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union sind endlich die ersten wichtigen Fragen geklärt. Die Einigung verkündeten EU-Kommissionschef JeanClaude Juncker und Premierministerin Theresa May am Freitag. Demnach zahlt London auch nach dem Austritt 2019 weiter Milliarden an Brüssel, gewährt Millionen EU-Bürgern im Land Bleiberechte und garantiert, dass keine feste Grenze in Irland entsteht. Der Weg für die zweite Verhandlungsphase ist frei.
Auch der Streit ums Geld scheint beigelegt. London akzeptiert die von der EU errechneten Brutto-Verbindlichkeiten von rund 98 Milliarden Euro. Da der Nettobetrag über mehrere Jahre und in Euro anfällt, bleibt die Pfund-Summe obskur, was britischen Interessen entspricht. Je nach Wirtschaftsentwicklung und Währungsschwankungen rechnen Experten mit 40 bis 50 Milliarden Euro. Der britische Brexit-Staatssekretär Steve Baker sprach am Freitag von einem Korridor zwischen 35 und 40 Milliarden Euro.
BRÜSSEL - Das Europaviertel lag noch im Tiefschlaf, als sich die britische Premierministerin Theresa May am Freitag um 6.54 Uhr Ortszeit in Brüssel aus ihrem Dienstwagen schälte und die Handschuhe von den Fingern nestelte. Eine knappe Stunde später verkündete EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in drei Sprachen, aus Sicht der Kommission sei nun genügend Fortschritt in den Austrittsverhandlungen erreicht. Nun könne man als nächstes das Übergangsabkommen in Angriff nehmen. May sagte: „Um an diesen Punkt zu kommen, mussten beide Seiten Zugeständnisse machen. Ich bin überzeugt, dass die erzielte Einigung die Interessen Großbritanniens optimal berücksichtigt.“
Auf den ersten Blick allerdings hat sich die EU-Seite in fast allen Punkten durchgesetzt. Großbritannien und EU rangen um drei Themen: um die Rechte und den Status von EU-Bürgern im künftig getrennt segelnden Großbritannien und die Rechte der auf dem Kontinent lebenden Briten. Um die finanziellen Verpflichtungen und Beiträge Großbritanniens zum EU-Budget über den Austritt hinaus. Und schließlich um den Status Nordirlands, das zu Großbritannien gehört, geografisch aber Teil der irischen Insel ist. Dieser letzte Punkt erwies sich als besonders schwer zu lösendes Problem.
In der Finanzfrage beharrten die EU-Unterhändler darauf, dass durch den Brexit kein Mitgliedsstaat in der laufenden Finanzperiode mehr bezahlen müsse oder weniger Zuwendungen erhalten dürfe, als wenn Großbritannien Mitglied geblieben wäre. Ferner müsse Großbritannien alle in die Zukunft reichenden finanziellen Verpflichtungen erfüllen.
Frage der Bürgerrechte gelöst
Als Beispiel nannte EU-Chefunterhändler Michel Barnier am Freitag die Zahlungen in den Globalisierungsfonds, in den Afrikafonds, an die Europäische Entwicklungsbank und an die Europäische Zentralbank. Was das die Briten genau kosten soll, wollte er nicht sagen. Zum einen würde eine Zahl wie 60 Milliarden Euro für schlechte Stimmung sorgen. Zum anderen ist eine Liste der Verpflichtungen für die EU viel mehr wert als eine Schlussrechnung. Die Posten müssen Schritt für Schritt abgearbeitet werden, ganz egal, was das am Ende kostet. Auch die Frage der Bürgerrechte wurde einvernehmlich gelöst. Hier war ein Kompromiss am einfachsten zu finden, da die Briten auf dem Kontinent ebenso geschützt werden müssen wie die EU-Bürger auf der britischen Insel. Sie werden auf Antrag einen Sonderstatus erhalten, der sie dazu berechtigt, Familienangehörige nachzuholen. Auch auf Kinder, die erst nach dem Austritt geboren werden, erstreckt sich dieses Recht. Der Verwaltungsakt soll für die Antragsteller kostenlos sein. Um die Formalitäten kümmert sich ein Treuhänder, für Streitfragen wird eine Schlichtungsinstanz eingerichtet.
Für die Streitfrage, ob der Europäische Gerichtshof (EuGH) für solche Fälle weiterhin Berufungsinstanz sein kann, fand man ebenfalls eine elegante Lösung. Die Austrittsvereinbarung wird komplett in britisches Recht überführt. Es steht den Richtern aber frei, nach dem Austritt weitere acht Jahre lang Gutachten vom EuGH einzuholen, wenn sie sich in einem Einzelfall nicht sicher sind. Nach dieser Frist, so glauben Rechtsexperten der EU-Kommission, seien die Rechte durch Präzedenzfälle so fest im britischen Recht verankert, dass der EuGH nicht mehr gebraucht werde.
Einen solchen Fahrplan sucht man für Irland vergebens. Die Interessen beider Seiten stehen sich in dieser Frage entgegen. Großbritannien akzeptiert nicht, dass sich durch einen Sonderstatus Nordirlands der Graben zum Königreich vertieft und die Angliederung an die Republik Irland eingeläutet wird. Die EU wiederum kann nicht akzeptieren, dass in Nordirland britische Standards und britisches Recht gelten, für Waren, Finanzströme und Personenverkehr aber dennoch an der britisch-irischen Grenze alles bleibt wie bisher. Dort gibt es seit der Friedensvereinbarung nämlich keine Grenzkontrollen mehr.
Die Nordirland-Frage bleibt ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft, der sich leicht zur Zeitbombe in den nun anstehenden Verhandlungen über einen neuen Partnerschaftsvertrag mausern könnte.