Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mit der Empörung alleine
Mit einem geschickten Schachzug haben sich die in der Visegrad-Gruppe zusammengeschlossenen Osteuropäer aus dem Schmollwinkel befreit. So boten Ungarn, Tschechien, Polen und die Slowakei dem italienischen Ministerpräsidenten 36 Millionen Euro für Grenzsicherungsmaßnahmen und humanitäre Hilfe in Libyen. Italien leitet das Projekt, mit dem Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa gehindert werden sollen.
Die Botschaft ist klar. Die Osteuropäer zeigen sich solidarisch – aber nur bei gemeinschaftlichen Vorhaben, die mit ihren eigenen politischen Zielen übereinstimmen. Damit versuchen sie sich von dem mehrheitlich, aber gegen ihren Willen gefassten Beschluss der Regierungen freizukaufen, Flüchtlinge aus den besonders stark belasteten Ländern Italien und Griechenland nach einem Quotensystem auf andere Mitgliedsstaaten zu verteilen. Ratspräsident Donald Tusk, der als ehemaliger polnischer Regierungschef die Mentalität seiner Landsleute gut kennt, leistete im Vorfeld Schützenhilfe.
Angela Merkel stand gestern mit ihrer Empörung ziemlich alleine da. Viele EU-Regierungen sind in Wahrheit froh, dass die Osteuroparoute dicht ist und auch der Weg über das Mittelmeer mit libyscher Hilfe blockiert wird. Zwar zeigt man sich offiziell entsetzt von den menschenverachtenden Zuständen in libyschen Lagern. Andererseits will man mit allen Mitteln verhindern, dass wieder mehr Menschen die mörderische Reise nach Europa wagen.
Weil das so ist, werden die Visegrad-Länder mit ihrem Ablasshandel vermutlich das beabsichtigte Ziel erreichen, keinen einzigen Muslim über ihre Grenze lassen zu müssen. Die Folgen für die Gemeinschaftsmoral sind fatal. Denn jedes Land hat irgendwo seinen schwachen Punkt. Für die Osteuropäer sind es die Flüchtlinge, für Luxemburg und Belgien die Unternehmensteuern, für Österreich die Russlandsanktionen. Wenn die europäische Politik künftig wieder davon abhängt, dass alle stets mit allem einverstanden sind, dann stehen Jahre der Lähmung bevor.