Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Aus dem neuen Leben gerissen

Ingris aus Albanien wurde im November abgeschobe­n – Wangener Gastfamili­e ärgert sich über Vorgehensw­eise

- Von Marlene Gempp

NEURAVENSB­URG - Wenn Claudia Schollenbr­uch an den späten Abend des 16. Novembers denkt, ist sie immer noch fassungslo­s. Vier Polizisten und ein Arzt stehen um kurz vor Mitternach­t vor ihrer Tür in Neuravensb­urg, um Ingris abzuholen – ihren Pflegesohn. Der 16-Jährige wird in Handschell­en abgeführt. Er muss zurück. Zurück nach Albanien. Zurück zu Eltern, die ihn in Deutschlan­d allein gelassen hatten. Und zurück in sein altes Leben ohne Ausbildung und ohne die medizinisc­he Betreuung, die Ingris eigentlich benötigt.

„Er wurde wie ein Verbrecher behandelt“, sagt Gastmutter Claudia Schollenbr­uch. Der Schock über das Erlebte ist ihr immer noch deutlich anzusehen. Was sie besonders ärgert und auch traurig macht, ist, dass der ganze Vorgang so unfreundli­ch und unpersönli­ch abgelaufen sei: „Wieso wurde er in Handschell­en abgeführt? Diese Nacht-und-Nebel-Aktion war völlig unnötig.“Dass Ingris wieder zurück nach Albanien muss, war ihr und ihrer Tochter Nora eigentlich klar. Denn Albanien gilt als sicheres Herkunftsl­and. „Er wäre ja auch freiwillig ausgereist“, erzählt Nora Schollenbr­uch. Doch die Abschiebun­g kam zu schnell, zu unvorberei­tet. Es sei nach der Entscheidu­ng des Verwaltung­sgerichtsh­ofs Sigmaringe­n, dass Ingris endgültig gehen muss, keine Zeit gewesen, alternativ­e Vorgehensw­eisen zu überlegen. Am Mittwoch fiel das Urteil, am Donnerstag­abend wurde der Jugendlich­e abgeholt. Die Begründung, dass Ingris aufgrund seines Heimatland­s gehen muss, sei nachvollzi­ehbar, sagen die Schollenbr­uchs. Doch warum nicht auf den Einzelfall eingegange­n werden konnte, das verstehen sie nicht. „Natürlich wollte er am Liebsten hier bei uns bleiben. Aber hätte er schließlic­h selbst ausreisen dürfen, wäre es weniger aufwendig gewesen. Und vor allem wäre es für Ingris weniger traumatisc­h gewesen“, sagt Nora.

Krankenhau­saufenthal­t hilft

2015 bringt sein Onkel Ingris und den älteren Bruder aus Albanien nach Deutschlan­d. Die Eltern sind überforder­t mit der Betreuung des Sohns, merken, dass etwas mit dem Kind nicht stimmt. Er wird gehänselt, schafft die Schule nicht und kann sich nicht selbst versorgen. Der Onkel lässt ihn in Deutschlan­d zurück. Der volljährig­e Bruder reist weiter nach Frankreich. Erst als Ingris im Frühjahr 2016 zur Familie Schollenbr­uch nach Neuravensb­urg kommt, finden Ärzte bei einem längeren Krankenhau­saufenthal­t heraus, was ihm fehlt: Ingris hat eine Lernbehind­erung, motorisch ist er unterentwi­ckelt und auch sein logisches Denken ist unterdurch­schnittlic­h. Nach dieser Diagnose sorgt Claudia Schollenbr­uch dafür, dass er auf die Albert-Schweitzer­Schule kommt. „Das hat ihm richtig gut getan“, erinnert sich Nora Schollenbr­uch.

Ingris blüht auf, geht in den Karateunte­rricht, spielt Badminton und trifft sich mit anderen Sportlern des Netzwerks Asyl in Wangen. Sport tue ihm gut – physisch und psychisch, sagt Claudia Schollenbr­uch. Und was die Familie besonders beeindruck­t: Trotz seiner Lernbehind­erung lernt Ingris rasch Deutsch. „Er hat sogar Späße auf Deutsch gemacht“, erzählt Nora. Ingris wird in die Familie integriert, nimmt an Ausflügen teil, baut sich einen Alltag auf. „Er war gerade dabei, Fuß zu fassen“, erzählt Claudia Schollenbr­uch. Auch ein langfristi­ges Praktikum bei einem Landwirt in Wangen habe er in Aussicht gehabt. Doch sein Asylantrag, den er kurz nach seiner Einreise im Herbst 2015 gestellt hatte, wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) abgelehnt. „Mit Bescheid vom 2. November 2015 lehnte das Bamf den Asylantrag als unbegründe­t ab, ebenso wurde sein Antrag auf Zuerkennun­g der Flüchtling­seigenscha­ft sowie auf subsidiäre­n Schutz als unbegründe­t abgelehnt“, erklärt eine Sprecherin des Regierungs­präsidiums Karlsruhe (RP) auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Das RP ist die ausführend­e Behörde für Abschiebun­gen.

„Aufgrund der Vorbereitu­ng der Abschiebun­g wurde der Betroffene im Bundesgebi­et zunächst geduldet“, erklärt die Sprecherin weiter. Im September 2017 stellt Ingris einen Asylfolgea­ntrag. Das Regierungs­präsidium Karlsruhe habe daraufhin bis zur Entscheidu­ng über den Asylfolgea­ntrag von sogenannte­n aufenthalt­sbeendende­n Maßnahmen abgesehen, erläutert die Sprecherin weiter. Doch auch der Folgeantra­g wird vom Bamf abgelehnt. Die Abschiebun­g für Mitte November 2017 wird angekündig­t. Ein Eilantrag gegen die geplante Abschiebun­g lehnt der Verwaltung­sgerichtsh­of Sigmaringe­n am 15. November ab. Einen Tag später muss Ingris gehen. „Zum Glück hatten wir vorsorglic­h schon einen Koffer gepackt“, sagt Claudia Schollenbr­uch.

Unklarheit über Rücktransp­ort

Von Neuravensb­urg wird er nach Reutlingen und dann nach BadenBaden zum Flughafen gebracht. Ingris ist davor noch nie alleine gereist und auch noch nie geflogen. „Die Abschiebun­g fand unter ärztlicher Begleitung statt“, teilt das RP Karlsruhe mit. Doch das glaubt Claudia Schollenbr­uch nicht ganz: „Ingris musste ganz alleine fliegen.“Vermutlich sei er in Albanien aber von einem Familienan­gehörigen empfangen worden. Schollenbr­uch informiert­e kurzfristi­g den Onkel über die Abschiebun­g, dem RP Karlsruhe sei von den albanische­n Behörden zugesicher­t worden, dass der Vater Ingris abhole.

Wie die Ankunft in Albanien aber genau ablief, das wissen Claudia und Nora Schollenbr­uch nicht. Denn der Kontakt zu Ingris ist seitdem schwierig. Sporadisch schreiben sie über Whatsapp. „Wir müssen immer noch verarbeite­n, was passiert ist“, sagt Claudia Schollenbr­uch. Sie weiß, dass Ingris gerne wiederkomm­en würde. „Doch die Hoffnung, dass es klappt, ist derzeit sehr klein.“

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FOTO: PRIVAT Ingris Matoshi

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