Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mädchen bevorzugt
Während der Fasnet lag’s nahe, dass man mich meiner einst blonden Haare wegen als Mädchen verkleidete. Zwei Zöpfchen hingen mir an, Blüslein und Röcklein wurden mir übergestreift, Schühchen und Strümpfchen. Alle Erwachsenen lachten herzlich, nannten mich Marcella, und meine Schwester, damals fünf Jahre alt, sagte, sie habe sich schon immer lieber eine Schwester gewünscht als einen Markus.
Mit der Zeit merkte ich, dass es nicht nur während der Fasnet besser war, Mädchen mit blonden Zöpfen zu sein, als ein zopfloser Knabe. Lehrer(innen) mochten Mädchen lieber als Buben, wegen ihrer schönen Handschrift, ihrer Aufmerksamkeit und ihres Fleißes. Mädchen waren auch verlässliche Tagebuchordnerinnen. Mädchen betonten besser beim Lesen und trugen Gedichte besser vor. Sie sangen besser, sprachen besser hochdeutsch, waren hübscher und besser gewaschen. Mit allen Wassern! Mädchen waren mögig, weshalb man sie bevorzugen musste. Mir kam seinerzeit die Fasnet paradiesisch vor, als ich ein Mädchen mit Zöpfchen und Blüslein sein durfte und Marcella gerufen wurde.
Mein Dasein als Markus im Restjahr war und ist bis heute geprägt von meiner Lebenserfahrung, wonach Mädchen mit Zöpfen und Blüslein bevorzugt werden. Mädchen werden bevorzugt, bis sie Frauen sind und darüber hinaus. Man winkt sie über Zebrastreifen, hält ihnen alle Türen offen, lächelt ihnen vorsichtig zu, um Missverständnisse zu vermeiden, und mag sie trotz alledem aus ganzem Herzen.