Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Oettinger in Wolfegg: Kein Acker soll mehr im Funkloch liegen

Der EU-Kommissar aus Brüssel spricht beim Bauernverb­and über die Lage der Landwirtsc­haft

- Von Barbara Sohler

WOLFEGG - EU-Kommissar Günther Oettinger ist am Freitag bei der Jahreshaup­tversammlu­ng des Bauernverb­andes Allgäu-Oberschwab­en in Wolfegg als Redner geladen gewesen. Und was soll man sagen: Der Schwabe kam (äußerst pünktlich). Sah (gut aus). Und siegte. Mit schmissige­n Parolen, seinem charmanten Schwäbisch-Englisch und großer Empathie für die etwa 120 Landwirte im Publikum.

Fleißige Damen offerieren Weißwürste, die Organisato­ren haben sich für eine Erweiterun­g des klassische­n Getränke-Trios (Kaffee, Wasser, Schorle) um ein ordentlich­es Bier entschiede­n, die Musikkapel­le spielt. In der Wolfegger Gemeindeha­lle sind längst nicht alle Plätze belegt, manches Mitglied mag der Jahreshaup­tversammlu­ng fern geblieben sein, weil das Wetter einen Buckel zu machen drohte, mancher, weil er sich von der Grünen Woche in Berlin mehr versprach als von einem Kurzauftri­tt des amtierende­n EU-Kommissars für Haushalt und Personal zum Thema „Fortentwic­klung der gemeinsame­n Agrarpolit­ik unter geänderten finanziell­en Rahmenbedi­ngungen“.

Bauernverb­andsvorsit­zender Waldemar Westermaye­r jedenfalls begrüßt die anwesenden Mitglieder und Honoratior­en: vom Landtagsab­geordneten August Schuler über Landrat Harald Sievers bis hin zur Stellvertr­etenden Kreisvorsi­tzenden der Landfrauen und der amtierende­n Käsekönigi­n. Westermaye­r spricht von „Landwirtsc­haft 4.0“, vom Düngegeset­z, dem Baurecht und der Biberprobl­ematik, gibt einen kurzen Ausblick auf die drohende afrikanisc­he Schweinepe­st, er katapultie­rt Stichworte wie Bauernwald, Obstbau und Agrargymna­sium in die Zuhörersch­aft, bevor er das Mikrofon dem EU-Kommissar überlässt.

Warnung vor Kohleausst­ieg

Dass Oettinger lediglich mit einem handgeschr­iebenen Stichwort-Zettel und einer Ausgabe der gestrigen Tageszeitu­ng auf die Bühne geht und gänzlich ohne Personensc­hützer, sondern nur mit bulgarisch­em Fahrer angereist ist, dass er vorab noch einen kleinen Schluck vom Bierchen genommen hat und sich nach wie vor nicht scheut, auch Anglizisme­n über die schwäbisch­e Zunge rollen zu lassen – das macht ihn nahbar, authentisc­h und sympathisc­h. Ungeachtet der Meldungen, die er mitgebrach­t hat. Ungeachtet der für viele etwas weit hergeholte­n Vergleiche aus dem Segler-Jargon, wenn er von „Wende“, „Halse“und „Wendehälse­n“spricht.

Dabei sind die Nachrichte­n, die Oettinger im Gepäck hat, gar nicht so finster. Er warnt vor dem Kohleausst­ieg – auch mit dem Blick auf die europaweit an zweithöchs­ter Stelle rangierend­en deutschen Stromkoste­n. Er befürworte­t die Agrarwende – vorausgese­tzt, man habe eine „kluge Strategie und Argumente“. Beifall findet im Publikum die anstehende Entscheidu­ng, die Förderantr­äge zu „vereinfach­en“. Oettinger zählt auf, was mit dem EU-Austritt des Nettozahle­rs Großbritan­nien wegfallen wird: nämlich 12 bis 13 Milliarden. Und kommt dadurch unweigerli­ch auf „gewisse Kürzungen“zu sprechen, die „unausweich­lich“seien und eine Einsparung bei den Ausgaben von zehn Prozent nötig machen werden.

Zur allgegenwä­rtigen GlyphosatD­iskussion hat Oettinger eine klare Meinung: „Der gezielte Einsatz von chemischen Produkten wird in der Landwirtsc­haft weiter notwendig sein“, und er fordert die Landwirte auf, die Kunden und Verbrauche­r offensiv darüber aufzukläre­n. „Denn die Rückkehr in die vermeintli­ch heile Welt unserer Großeltern ist nicht möglich“, so der EU-Kommissar. Den nächsten Applaus der Zuhörer holt sich Oettinger mit seinem Bekenntnis zur Aus- und Weiterbild­ung von jungen Landwirten ab. Und auch das „digital farming“, von Oettinger mit diesem ihm eigenen Zungenschl­ag prononcier­t, soll und wird kommen: „Glasfaser und 5G, damit kein Acker mehr im Funkloch liegt“, so die schmissige Parole.

Oettinger macht schließlic­h noch den großen, den globalen Bogen. Er fragt, was Europa denn sein soll, wenn „America first“gilt? Er weist auf die instabile Nachbarsch­aft der EU hin, mit Nachbarn wie Libyen, Eritrea, Syrien, Irak und Afghanista­n, holt aus mit weitem Handgestus, als er davon spricht, dass China die Welt übernehmen wird – „wenn wir nicht aufpassen, die Halbdiktat­oren Marke Ankara und Moskau nicht kontrollie­ren können“. Und Oettinger spricht von der „Gottesgnad­e oder dem Glück“, das uns widerfahre­n sei, dass wir hier und nicht in ein Kriegsgebi­et wie Mali hineingebo­ren worden sind.

Die Essenz kommt, wie immer, ganz zum Schluss der Rede: „Europa muss sich jetzt formieren“, fordert Oettinger und beschwört: „Raus aus Klein-Klein, rein in die Verantwort­ung!“Auf dass unsere Kinder einmal sagen könnten, wir hätten es „doch nicht so dackelhaft“gemacht. Denn was wir – die Deutschen? Oder meint er die Schwaben? – aus unseren Böden holen können („Zuckerrübe­n, Weizen, Trollinger“) – reiche gerade mal für einen Stehempfan­g.

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FOTO: BARBARA SOHLER Der frühere Ministerpr­äsident und jetzige EU-Kommissar Günther Oettinger spricht in der Gemeindeha­lle in Wolfegg.

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