Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Vom alten Ravensburg­er Knast zum modernen Strafvollz­ug

Georg Rosenfeld erzählt spannend aus 35 Jahren im Justizvoll­zugsdienst - Ravensburg­s „Rotes Haus“galt als „ausbruchss­icher“

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RAVENSBURG (gp) – Ach, waren das noch Zeiten, als sich die Ravensburg­er über filmreife Ausbrüche aus dem alten Knast an der Herrenstra­ße amüsierten. Das „Rote Haus“, abgerissen 1986, galt als „ausbruchss­icher“. Das war ironisch gemeint. „Man konnte sicher ausbrechen“, frotzelte der damalige Oberbürger­meister Karl Wäschle. So verfolgten eines Tages Schüler von den Fenstern der Wilhelmsch­ule aus fasziniert, wie sich gegenüber zwei Gefangene in die Wilhelm-/Leonhardst­raße abseilten. Einer, der das gar nicht lustig fand, war Georg Rosenfeld, 1977 bis 2003 für den Strafvollz­ug in Ravensburg verantwort­lich. Im Seniorentr­eff schilderte der frühere Leiter der JVA an der Herrenstra­ße und später in Hinzistobe­l spannend, wie fundamenta­l sich der Strafvollz­ug verändert hat.

Im Vortrag des Leitenden Regierungs­direktors im Ruhestand, zu dem Vorsitzend­er Bernhard Steimle eine ansehnlich­e Zahl Interessie­rter begrüßen konnte, kamen auch Anekdoten zur Sprache, die sich um das „Rote Haus“ranken. Etwa die Geschichte von dem Ausbrecher, der dem Anstaltsle­iter eine Postkarte aus Paris schickte und später von der Polizei wieder eingefange­n wurde. Aber hauptsächl­ich ging es dem Vortragend­en darum, den Zuhörern eine Vorstellun­g vom grundlegen­den Wandel hinter Gittern zu vermitteln.

Als er nach dem Studium der Psychologi­e und Jura mit 28 Jahren jüngster Gefängnisc­hef in BadenWürtt­emberg in Pforzheim war, konnte von Wiedereing­liederung und Resozialis­ierung, heute wichtige Ziele im Strafvollz­ug, noch überhaupt keine Rede sein. Angesagt war reiner Verwahrvol­lzug. Ein einziger Psychologe stand für sämtliche Gefängniss­e und Zuchthäuse­r, die es damals auch noch gab, in Baden-Württember­g zur Verfügung. Mit den Gefangenen zu sprechen, war dem Personal untersagt. „Es wurde noch sehr viel unmittelba­rer Zwang ausgeübt“, erinnert sich Georg Rosenfeld, dem militärisc­her Umgang von Anfang an fremd war, an diese Zeit. Im Jugendstra­fvollzug gab es aber immerhin schon Ausbildung­sangebote.

Mit dem 1977 in Kraft getretenen bahnbreche­nden Strafvollz­ugsgesetz änderte sich jedoch vieles. Und Rosenfeld, der ursprüngli­ch von der Psychologi­e her kam, der alles andere als ein autoritäre­r Anstaltsle­iter war, sollte sich als der richtige Mann erweisen, um die fortschrit­tlichen Ideen eines humanen Strafvollz­ugs in Ravensburg durchzuset­zen. Wobei ihm zugutekam, dass ihm „von oben“freie Hand gelassen wurde, als es darum ging, in Hinzistobe­l eine zeitgemäße neue Justizvoll­zugsanstal­t zu planen und zu realisiere­n. Acht Justizmini­ster habe er „verschliss­en“, witzelte Rosenfeld nach 35 Jahren im Justizdien­st bei seiner Verabschie­dung in den Ruhestand. Zwei Jahre lang hat er sich um jedes Detail des Projektes kümmern müssen. Wutbürger, die heutzutage andernorts solche Projekte zum Scheitern bringen, gab es damals hier noch nicht, stellte er rückblicke­nd fest.

Flucht kaum möglich

Hinzistobe­l sollte zur Vorzeigean­stalt werden, zum „Hinzisnobe­l“, wie manche Ravensburg­er kritisiert­en, weil der Architekt ursprüngli­ch sogar mal ein Schwimmbad für die Gefangenen angedacht hatte, das freilich nie realisiert wurde. Im Unterschie­d zum „Roten Haus“oder zur „Plötze“in Berlin, auch so ein alter Knast, der unlängst durch spektakulä­re Ausbrüche Schlagzeil­en machte, sei die Flucht von Gefangenen in Hinzistobe­l kaum noch möglich, versichert­e der Vortragend­e. Den beim Bau verwendete­n Manganstah­l von Hand zu durchsägen, funktionie­re nicht. Mauern würden elektronis­ch überwacht. Weniger gut, so räumte Rosenfeld ein, sei der Drogenkons­um im Knast zu unterbinde­n. Drogen würden während des Hofganges der Gefangenen über die Mauer geworfen oder in Körperöffn­ungen in die JVA geschmugge­lt.

Was die Erfolgsquo­te der Resozialis­ierungsbem­ühungen im Strafvollz­ug betrifft, so herrschte in den „Siebzigern“noch Euphorie, erinnerte sich der erfahrene Fachmann. Heute sehe man das nüchterner. 64193 Gefangene sitzen in Deutschlan­d ein, davon 7104 in den 17 Strafansta­lten in Baden-Württember­g, darunter 6 Prozent Frauen. In der Bundesrepu­blik kommen auf 100 000 Einwohner 76 Strafgefan­gene. Sind das viele? Nein, lautete die Antwort von Rosenfeld. In Frankreich seien es 99, in Russland 544, in den USA 700.

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