Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Grieshaber mahnt Regierungsbildung an
Beim Neujahrsempfang der IHK betonen die Kammerpräsidenten die Bedeutung Europas
WEINGARTEN - Wirtschaftlich stehen die Bezirke der Industrie- und Handelskammern Ulm und Bodensee-Oberschwaben zwar stabil wie selten da. Dennoch vermissen die beiden Kammerpräsidenten Peter Kulitz und Heinrich Grieshaber derzeit die nötige politische Dynamik aus Berlin, damit die vom französischen Präsidenten Macron entfachte neue Aufbruchstimmung für Europa nicht erlahmt.
Das betonten beide Kammerpräsidenten am Freitagabend beim Neujahrsempfang der Kammern im Kultur- und Kongresszentrum Weingarten vor rund 750 geladenen Gästen aus Wirtschaft und Politik. „Deutschland braucht Europa und Europa braucht Deutschland“, sagte Grieshaber. Daher sei es wichtig, dass die Koalitionsverhandlungen bald zu einer stabilen Bundesregierung in Berlin führen. Sie müsse endlich wieder zu einem Gestalter Europas werden: „Wir stehen vor großen Herausforderungen. Da kann man dieses Land nicht länger nur verwalten. Das Vertagen und Wegschieben von Entscheidungen kommt uns allen bald teuer zu stehen.“
In Sachen Digitalisierung brauche der Mittelstand keine Belehrungen aus der Politik. Sie müsse aber dafür sorgen, dass flächendeckend schnelles Internet vorhanden ist. „Wir Mittelständler haben längst die Weichen für die Zukunft gestellt mit Erfindergeist und Fleiß“, betont Grieshaber. Ohne gute Infrastruktur und Rechtssicherheit kämen diese Tugenden aber nicht ausreichend zum Tragen.
Wie dieser Erfindergeist und die Innovationskraft der Unternehmen noch weiter gesteigert werden kann, verdeutlichte der Festredner Frederic G. Pferdt, ein gebürtiger Ravensburger, der es beim Internetkonzern Google zum Innovationschef gebracht hat. Seit 2011 lebt der Vater von drei Kindern in den USA. Seinen Zuhörern in Weingarten gab er praxisnahe Tipps, wie sie in ihren Unternehmen eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen können, in der sich Mitarbeiter trauen, vermeintlich dumme Fragen zu stellen und Ideen vorzutragen, die auf den ersten Blick unrealistisch erscheinen. Pferdt forderte seine Zuhörer auf, eine Frage zu formulieren, der mit den Worten beginnt: „Was wäre, wenn...?“
Der Ulmer IHK-Präsident Peter Kulitz nahm in seinem Schlusswort diese Aufforderung spontan auf: „Was wäre, wenn die großen Internetkonzerne überall die gleichen Steuern bezahlen wie die analogen Unternehmen?“Doch darin sieht Kulitz nicht den einzigen Unterschied zwischen dem Silicon Valley und Oberschwaben: „Das Denken, das dort herrscht, ist uns um Jahre voraus.“Für das Unternehmertum wie für die europäische Politik wünschte er sich eine gesunde Mischung aus Mut und Besonnenheit, wobei der französische Präsident für Ersteres stehe und die deutsche Kanzlerin Merkel für Letzteres.