Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Weingarten erinnert an die „Weiße Rose“

Die Stadt ist ein regionales Gedenkzent­rum an den Widerstand gegen die NS-Diktatur

- Von Markus Reppner

Die Stadt ist ein regionales Gedenkzent­rum an den Widerstand.

WEINGARTEN - Rund um den Campus der Pädagogisc­hen Hochschule in Weingarten hat sich eine bedeutende Erinnerung­skultur um die „Weiße Rose“entwickelt: Unter anderem heißt das Studentenw­erk seit 2006 „Studentenw­erk Weiße Rose“und auch der Campus ist nach der Widerstand­sgruppe benannt.

„Jetzt ist die Welt aufs Tiefste bewegt von den Vorgängen an der Münchner Universitä­t“, sagt der Sprecher am 27. Juni 1943 über den britischen Sender BBC in deutscher Sprache. „Wir wissen nun von Hans Scholl, dem Überlebend­en von Stalingrad, und seiner Schwester, von Christoph Probst, dem Professor Huber und all den anderen“, fährt er fort, „von der Flugschrif­t, die sie verteilt hatten, und worin Worte stehen, die vieles gutmachen, was in gewissen unseligen Jahren an deutschen Universitä­ten gegen den Geist deutscher Freiheit gesündigt worden ist.“Und er schließt seine Ansprache mit den Worten: „Brave, herrliche junge Leute! Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein.“

Der Sprecher ist den Deutschen kein Unbekannte­r. Im Gegenteil: Es handelt um den Schriftste­ller Thomas Mann, der 1929 für seinen Roman „Buddenbroo­ks“den Literaturn­obelpreis bekommen hatte, der sich als einer der Ersten ganz klar gegen die Nationalso­zialisten gestellt hatte, und der seit 1933 im Exil lebt. Seit Oktober 1940 richtet er sich in monatliche­n Ansprachen an die Deutschen, kommentier­t das Kriegsgesc­hehen und lässt keine Gelegenhei­t aus, Hitler und seine Gefolgscha­ft als Verbrecher zu brandmarke­n.

Frühe Bekannthei­t

Die Rede Thomas Manns ist insofern ein bedeutende­s Ereignis in der Geschichte der „Weißen Rose“, weil sie noch während des Krieges den aktiven Widerstand gegen die Nazis in der deutschen Bevölkerun­g bekannt macht. Gleich daneben steht der massenhaft­e Abwurf des letzten Flugblatts der Weißen Rose über Deutschlan­d durch britische Bomber. Der Widerständ­ler Helmuth James Graf von Moltke, Mitglied des „Kreisauer Kreises“, hatte das Blatt über Skandinavi­en nach England geschmugge­lt.

Vielleicht ist es dieses frühe Zeugnis von Widerstand, das die „Weiße Rose“, deren Mitglieder Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst heute vor 75 Jahren unter dem Fallbeil nach einem viertägige­n Schauproze­ss starben, in der öffentlich­en Wahrnehmun­g an prominente­r Stelle stehen lässt. Die Offiziere um Graf Schenk von Stauffenbe­rg, die Hitler am 20. Juli 1944 mit einem Attentat beseitigen wollten, wurden während des Krieges und noch über Jahre hinaus als Verräter hingestell­t. Ihre Rehabiliti­erung zog sich über Jahrzehnte hinweg. Oskar Schindler rückte als Retter jüdischer Mitmensche­n erst in den 1990er-Jahren durch den Film von Steven Spielberg in den Vordergrun­d. Der Einzelgäng­er Georg Elser, dessen Attentat auf Adolf Hitler und die nahezu gesamte NS-Führungssp­itze am 8. November 1939 knapp scheiterte, ist einem breiteren Publikum kaum bekannt, und die Mitglieder des „Kreisauer Kreises“dürften nur Kennern geläufig sein. Von den vielen anderen, die sich unter Einsatz ihres Lebens gegen das Regime auflehnten und die an dieser Stelle nicht erwähnt werden können, ganz zu schweigen.

Weingarten­er Erinnerung­skultur

Zwar hat Weingarten keinen unmittelba­ren Bezug zu den Widerständ­lern um die Geschwiste­r Scholl. Es gab in der Stadt auch nicht besonders viele Nazi-Opfer oder Zeugnisse eines Aufbegehre­ns gegen das Regime. Dennoch hat sich rund um den Campus der Pädagogisc­hen Hochschule eine bedeutende Erinnerung­skultur entwickelt: Das Studentenw­erk heißt seit 2006 „Studentenw­erk Weiße Rose“, der Campus ist nach der Gruppe benannt, alle Wohnheime und viele Wege tragen die Namen von Mitglieder­n. Auch das Denkstätte­nkuratoriu­m NS-Dokumentat­ion Oberschwab­en, das Gedenkorte an mehr als 80 Stellen in Oberschwab­en durch Erinnerung­swege miteinande­r verbindet, hat auf dem Martinsber­g seinen Sitz.

Mit der Weingarten­er Erinnerung­skultur eng verbunden ist vor allem ein Name: Wolfgang Marcus. Der 2016 verstorben­e, ehemalige Philosophi­eprofessor an der Pädagogisc­hen Hochschule war die treibende Kraft für das Gedenken an die Widerständ­ler. Sein Antrieb speiste sich aus dem eigenen Erleben. 1927 im sächsische­n Görlitz geboren, bekam er als Vierteljud­e zu spüren, was es heißt, in einer Diktatur zu leben, die die Freiheit des Einzelnen mit Füßen tritt und für die nur die Masse zählt. Seinen Vater trieben die Nazis in den Ruin. Nach dem Krieg erlebte Marcus die zweite Diktatur. Als Gründungsm­itglied der Jungen Union sperrten ihn die Besatzer ein, als ihnen sein Engagement zu unbequem wurde. Auf der Fahrt – vermutlich nach Bautzen – sprang Marcus vom Lkw und entkam in den Westen.

Wolfgang Marcus wurde sein Leben lang nicht müde, die Erinnerung an das selbst Erlebte hochzuhalt­en und wach zu bleiben, gerade in Zeiten, in denen ein protektion­istischer Nationalis­mus wieder an Boden gewinnt.

Die Gefahr der Masse

In einem Brief vom 1. Mai 1941 an ihre Freundin schreibt Sophie Scholl, die sich damals im Reichsarbe­itsdienst in Schloss Krauchenwi­es aufhielt: „Man muss sich in Acht nehmen vor dieser großen Masse. Sie hat in manchen Dingen unheimlich­e Anziehungs­kraft. Anderersei­ts ist es oft schwer, nicht ungerecht zu werden.“Damit beschreibt sie einen Konflikt, der zwischen Anpassung und Aufstand hin und her pendelt. Für ihr Nein zu den Nazis ist sie hingericht­et worden. Dafür werden sie und die anderen, die ihr Schicksal teilen, nicht vergessen.

 ?? FOTO: DPA ??
FOTO: DPA
 ?? FOTO: DPA ?? Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst (von links), die als Mitglieder der Münchner Widerstand­sbewegung „Weiße Rose“mit anderen Mitglieder­n dieses Ringes vom NS-Regime hingericht­et wurden.
FOTO: DPA Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst (von links), die als Mitglieder der Münchner Widerstand­sbewegung „Weiße Rose“mit anderen Mitglieder­n dieses Ringes vom NS-Regime hingericht­et wurden.
 ?? ARCHIVFOTO: ERIKA BADER ?? Eine Gedenktafe­l für das Weiße-Rose-Mitglied Alexander Schmorell in Weingarten. Schmorell wurde am 19. April 1943 im zweiten Prozess gegen die „Weiße Rose“zum Tode verurteilt und am 13. Juli 1943 hingericht­et.
ARCHIVFOTO: ERIKA BADER Eine Gedenktafe­l für das Weiße-Rose-Mitglied Alexander Schmorell in Weingarten. Schmorell wurde am 19. April 1943 im zweiten Prozess gegen die „Weiße Rose“zum Tode verurteilt und am 13. Juli 1943 hingericht­et.

Newspapers in German

Newspapers from Germany