Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mit 66 endlich eine richtige Familie
Norbert hat wegen seines Handicaps bisher in Wohngruppen gelebt – doch so zu Hause wie bei Familie Rief hat er sich da nie gefühlt
SCHEIDEGG - Es gibt da eine Sache, die kann Norbert Schäfer nicht ausstehen: Dreck. Trotzdem lebt er seit ein paar Wochen bei der Familie Rief, die bei Scheidegg einen Hof betreibt, auf dem es jede Menge Pferdemist, Matsch und Tierhaare gibt. Doch das nimmt er in Kauf. Denn den Dreck, den kann er immer wieder abwaschen. Eine neue Familie, die bekommt er so schnell nicht. Doch darauf möchte der 66-Jährige, der an einer geistigen Behinderung leidet, nicht verzichten. Immerhin hat er dieses Gefühl der Geborgenheit lange vermisst.
Der Bauernhof ist sein Revier. „Weil ich alles weiß. Ob einer kommt, ob einer geht“, sagt Schäfer, während er in Richtung Lamastall spaziert. „Wenn einer kommt, dann schlag ich Alarm.“Neben ihm geht Monika Rief. „Manchmal bellt er dann wie ein Hund. Lustig wird es, wenn der Papagei das dann auch noch nachmacht“, ergänzt sie lachend. Während des kurzen Spaziergangs bleibt Schäfer immer wieder stehen und streift seine Schuhe am Schnee ab. „Die sind dreckig“, erklärt er mit entschuldigendem Blick.
Monika Rief ist so etwas wie Norbert Schäfers neue Tochter. Seit November wohnt er bei der Familie. Zwar hat er sein eigenes Zimmer, Bad und Wohnbereich teilt er sich aber mit Monika, ihrem Sohn und ihrer 91jährigen Mutter. Organisiert hat diese neue Familienkonstellation die Stiftung Liebenau. Norbert Schäfer und Monika Rief sind Teil des Projekts „Betreutes Wohnen in Familien“(BWF). „Es ist eine Alternative zu den klassischen Wohnformen“, erklärt Ramona Kurkowski, die Schäfer und die Familie Rief betreut. Gedacht ist das BWF für Menschen mit Behinderung, die nicht in einem Wohnheim, aber auch nicht allein in einer Wohnung leben möchten oder können. „Es gibt viele Menschen mit Behinderung, die sich ein familiäres Umfeld wünschen.“
Ohne Mutter, Vater, Geschwister
Eine Familie, die hatte Schäfer schon lange nicht mehr. Seine Mutter ist seit einigen Jahren tot, zu seinem Vater hat er schon lange keinen Kontakt mehr. Geschwister gibt es keine. Seit seinem Schulabschluss und bis zur Rente hatte er in den Werkstätten der Stiftung Liebenau gearbeitet. Gewohnt hat er zuletzt in einer betreuten Männer-Wohngemeinschaft in Meckenbeuren.
Gefallen hat es ihm dort nicht, seine Mitbewohner waren für seinen Geschmack viel zu laut. „Manchmal haben die gestritten“, erinnert sich Schäfer und verzieht angeekelt das Gesicht. Seinen Ruhestand wollte der 66-Jährige dort nicht verbringen. „Er wollte raus, Richtung Berge“, sagt Kurkowski. Familie Rief sei für ihn ein absoluter Glücksfall gewesen.
„Hier gehe ich überall spazieren.“Schäfer, der sich mittlerweile für ein Päuschen auf einer Bierbank der hofeigenen Gaststätte niedergelassen hat, führt seinen Zeigefinger von den Allgäuer Alpen in Richtung des Waldes, der beinahe an das Grundstück der Familie Rief grenzt. „Mir gefallen die Berge und die Seen und die Natur. Die natürlich auch. Und im Winter, wenn es mal kriminell ist, bleiben wir im Haus. Und da warten wir bloß das schöne Wetter ab“, sagt er.
Monika Rief hat bereits vor zwei Jahren entschieden, einen Menschen mit Behinderung bei sich aufzunehmen. Damals hatte eine geistig behinderte Frau auf ihrem Bauernhof Urlaub gemacht. „Sie hat mir von dem Projekt erzählt und dass sie selbst gern in einer Familie leben würde, aber keine findet.“Kurz darauf meldete sich Rief bei der Stiftung Liebenau und bekam einige Zeit später Norbert Schäfer zugeteilt. „Norbert ist für mich wie ein Opa, der eben immer da ist“, sagt sie.
Fürs Tischdecken zuständig
Dreimal am Tag treffen sich die Riefs an einem großen Tisch, um gemeinsam zu essen. „Es gibt mal Spaghetti oder Pommes. Oder Wurst. Sie kocht, was wir grad so wollen“, sagt Schäfer und wirft Monika Rief einen verschmitzten Blick zu. „Was ich mache, ich leg immer die Teller und Gabeln und Messer auf den Tisch. Abends mache ich das schon für morgen früh. Dann spare ich mir den Stress.“Mit dem Tischdecken trägt er seinen Teil zum Familienleben bei.
Nach dem Frühstück nimmt Monika Rief Norbert oft mit. Dann fahren die beiden in den Ort, Besorgungen machen. Nachmittags geht er dann spazieren, sitzt auf einem Bänkchen oder besucht, wie jetzt, die vielen Tiere auf dem Hof. „Ich lauf nicht gern in den Mist“, sagt Schäfer, während Monika Rief ihm das Gatter zum Lamastall aufhält. Nur zögerlich wagt sich der 66-Jährige ins Gehege, wo er sofort freudig von zwei Lamas und zwei Schafen empfangen wird. Erschrocken reißt er seine Hand, in der er einen Joghurtbecher mit Futter hält, in die Höhe. Das veranlasst das frechere der beiden Schafe dazu, gierig an ihm hochzuspringen. Erst nach mehreren Beteuerungen von Monika Rief glaubt er, dass es einfacher ist, den Tieren den Futterbecher entgegenzustrecken. „Jetzt bin ich dreckig“. Enttäuscht blickt Schäfer an seiner dunkelblauen Jacke herunter, auf der das Schaf helle Matschspuren hinterlassen hat.
„Auch, wenn er sich über den Dreck ärgert: Die Zeit an der frischen Luft und bei den Tieren tut Norbert gut“, sagt Ramona Kurkowski. Sie besucht die Riefs alle zwei Wochen auf dem Bauernhof, „um in Krisensituationen handeln zu können“. Weil es bei den Riefs und Norbert aber überhaupt keine Krise zu bewältigen gibt, verbringt Kurkowski die Zeit eben mit Norbert.
Projekt besteht seit 30 Jahren
Kurkowski betreut mit Angela Königer das Liebenau-Projekt „Betreutes Wohnen in Familien“für den Bezirk Schwaben. Bislang sind die Riefs die einzige Familie im Landkreis Lindau, die einen Menschen mit Behinderung aufgenommen hat. Im Landkreis Ravensburg und im Bodenseekreis gibt es das Projekt bereits seit 30 Jahren, dort nehmen etwa 80 Familien daran teil. „Die perfekte Familie gibt es nicht“, sagt Kurkowski. Bewerben könnten sich Familien mit oder ohne Kinder, aber auch Alleinstehende. „Man braucht nur die Bereitschaft, und ein eigener, möblierter Wohnraum muss vorhanden sein.“Ideal sei, wenn, wie bei den Riefs, ein Familienmitglied den Großteil des Tages zu Hause wäre.
Die Kosten für ihr neues Familienmitglied müssen die Gastfamilien nicht selbst stemmen: Die Stiftung Liebenau bezahlt pro Klient etwa 300 Euro Miete. Für die Betreuung bekommen die Gastfamilien 565 Euro, dazu kommt noch eine Verpflegungspauschale. „Außerdem gibt es eine Probewoche, bei der die Familien und die Klienten testen können, ob sie zueinanderpassen“, sagt Kurkowski.
Norbert Schäfer hat seine Probewoche Ende Oktober gemacht. Danach ist er gar nicht mehr zurück in seine WG nach Meckenbeuren gefahren. „Er wollte gleich bleiben, wir mussten ihm seine Sachen bringen“, erzählt Kurkowski und lacht. Schäfer ist währenddessen schon wieder beschäftigt. Mit einem Klumpen Schnee versucht er, die Spuren des verfressenen Schafs auf seiner Jacke zu beseitigen.
Norbert Schäfer beim Schafe- und Lamafüttern gibt’s im Video auf schwaebische.de/norbert