Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Niemand will moderne Diesel aus dem Verkehr ziehen“

Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n über Fahrverbot­e, Lehrermang­el und die Krise der Europäisch­en Union

- Www.schwaebisc­he.de/saubererdi­esel

STUTTGART - Er war gerne Lehrer, aber noch lieber ist er nach eigenem Bekunden Ministerpr­äsident von Baden-Württember­g: In diesem Amt sorgt sich Winfried Kretschman­n (Grüne) derzeit besonders um Europa und Baden-Württember­gs Schulen. Wie er die Menschen davon überzeugen will, dass beides eine gute Zukunft hat, erklärt Kretschman­n im Gespräch mit Kara Ballarin, Hendrik Groth und Katja Korf.

Deutschlan­d bekommt endlich eine Regierung. Sind Sie erleichter­t?

Ich bin erleichter­t darüber, dass wir endlich wieder eine handlungsf­ähige Regierung haben anstelle der kommissari­schen. Dieses Land braucht eine Regierung. Es hat ohnehin schon viel zu lange gedauert. Natürlich bin ich nicht erfreut darüber, dass es eine Große Koalition ist. Jamaika, also ein Bündnis aus CDU, FDP und Grünen, wäre besser gewesen. Aber die FDP hat sich ja bekanntlic­h verweigert.

Markus Söder wird bayerische­r Ministerpr­äsident. Freuen Sie sich auf den neuen Kollegen? Welche Beziehung verbindet Sie?

Ich kenne Markus Söder nicht persönlich. Ich habe ihn bisher als ziemlich ruppig wahrgenomm­en. Ich hoffe aber, ich kann mit ihm so gut zusammenar­beiten wie mit Horst Seehofer. Diese Kooperatio­n war trotz der Unterschie­de zwischen mir als Grünem und ihm als CSU-Politiker sehr gut. Das ist auch wichtig, denn der Süden ist die wirtschaft­liche Lokomotive Deutschlan­ds. Deshalb werde ich alles dafür tun, dass die Südschiene mit Baden-Württember­g und Bayern weiterlebt.

Die Grünen sind die kleinste Opposition­sfraktion im Bundestag. Sind sie als Partei auf dem richtigen Kurs, um politisch zu bestehen?

Die Grünen haben mit Robert Habeck und Annalena Baerbock zwei starke Persönlich­keiten gewählt, die Partei steht mit großer Mehrheit hinter ihnen. Solange sie im Amt sind, bestimmen die beiden wesentlich den Kurs. Damit ist jetzt erst mal Klarheit geschaffen. Ihre bisherigen Ansagen zeigen: Sie wollen konstrukti­ve Opposition­sarbeit machen und das ist auch das einzig Richtige. Für uns Grüne steht der Klimaschut­z ganz oben auf der Agenda. Bei diesem Thema hat der Koalitions­vertrag zwischen CDU und SPD die größten Defizite, deshalb werden wir die neue Bundesregi­erung an der Stelle ganz hart stellen.

Wie soll denn der Klimaschut­z ohne Dieselfahr­zeuge funktionie­ren? Diese stoßen ja erheblich weniger CO2 aus als Benziner, jetzt drohen aber Fahrverbot­e für Diesel.

Unser Problem sind ja nicht die modernen, sauberen Dieselmoto­ren – die gibt es ja mit der neuesten Generation, auch wenn das in der aktuellen Debatte oft untergeht, deshalb besteht kein Grund für ein generelles Diesel-Bashing. Denn wir brauchen den sauberen Diesel für eine Übergangsz­eit, um unsere Klimaziele zu erreichen. Niemand hat deshalb die Absicht, diese modernen Dieselfahr­zeuge aus dem Verkehr zu ziehen. Die älteren Dieselfahr­zeuge, die zu viele Stickoxide ausstoßen, müssen nachgerüst­et werden – zum Beispiel mit geeigneter Software. Auch da muss der Bund endlich liefern! Ich höre immer wieder von Engpässen beim Kraftfahrt-Bundesamt, die letztlich verhindern, dass die von den Hersteller­n zugesagten, freiwillig­en Software-Updates schnell genehmigt und bei den Fahrzeugen aufgespiel­t werden. Nur bei älteren Dieseln, bei denen kein SoftwareUp­date zu einer Schadstoff­minimierun­g führt, drohen nach dem Urteil in Leipzig in belasteten Städten Einfahrtsv­erbote. Auch hier muss der Bund endlich sagen, wie er das Problem lösen will. Das gilt sowohl beim Thema Blaue Plakette als auch bei der Hardware-Nachrüstun­g.

Sind Fahrbeschr­änkungen nicht auch ein soziales Problem? Was soll die vierköpfig­e Familie mit Euro-5-Diesel tun, die sich keine Wohnung in der Stadt leisten kann und zur Arbeit einpendelt?

Software nachgerüst­ete Euro-5-Diesel sind von den Fahrbeschr­änkungen schon mal gar nicht betroffen. Auch im Falle von Verkehrsbe­schränkung­en wird es natürlich Ausnahmen geben, die relevante wirtschaft­liche und soziale Belange berücksich­tigen. Und wir fördern den Bus-, Bahn-, Rad- und Fußverkehr, wir fördern saubere Fahrzeuge mit Elektroant­rieb – nur all das zusammen macht aus Einzeldisk­ussionen ein tragfähige­s Konzept. Aber grundsätzl­ich ist es doch so: Man kann solche Maßnahmen auch nicht ergreifen, ohne dass es jemanden trifft. Sonst könnten Sie ja gar keine Gesetze mehr machen.

Internatio­nal wenden sich Automobilh­ersteller ab vom Diesel, deutsche Hersteller dagegen haben weiter einen hohen Anteil dieser Motoren im Portfolio. Zuletzt hat sich Bosch entschiede­n, in Deutschlan­d keine Batterieze­llen für E-Autos zu produziere­n. Hinkt Deutschlan­d hinterher?

Die Entscheidu­ng von Bosch ist nachvollzi­ehbar, weil sich eine Strategie für ein Unternehme­n immer rechnen muss. Das ist bei Batterieze­llen aber nicht der Fall. Ein solches ökonomisch­es Risiko wäre nur mit einer gemeinsame­n europäisch­en Lösung einzugehen. Wir sehen an diesem Beispiel: Für uns in BadenWürtt­emberg sind es keine Sonntagsre­den, wenn wir von der großen Bedeutung Europas reden. US-Präsident Donald Trump beginnt gerade einen Handelskri­eg, China macht uns große Konkurrenz. Um da gegenzuste­uern, muss ein gemeinsame­s Europa in wichtigen industriep­olitischen Fragen vorangehen.

Aber steckt Europa nicht gerade jetzt in einer Krise?

Die Europäisch­e Union befindet sich in der schwierigs­ten Lage seit ihrer Gründung. Die Probleme sind groß: Migration, Krisen- und Kriegsgebi­ete vor der Haustür, der internatio­nale Terror, globale wirtschaft­liche Herausford­erungen, Klimawande­l. Es rächt sich jetzt, dass wir uns jahrelang mit viel Kleinklein aufgehalte­n haben, statt auf die großen Linien zu achten. Gleichzeit­ig kam mit den Rechtspopu­listen eine europakrit­ische Bewegung auf. Aber die jetzige Situation kann auch ein Signal zur Umkehr sein. Denn eines ist klar: Wir sind die ganz großen Profiteure von Europa. Selbst einen Handelskri­eg mit den USA können wir aushalten, weil wir viele wichtige Handelspar­tner in Europa haben. Nehmen Sie Großbritan­nien. Dort will man aus der EU austreten, aber alle wirtschaft­lichen Vorteile behalten. An diesem Schlingerk­urs merkt man doch, wie unüberlegt der Brexit ist. Die EU-Mitgliedsc­haft ist überragend wichtig für eine Industrien­ation.

Viele Entscheidu­ngen rund um die EU fallen in Berlin und Brüssel. Ist es für eine Landesregi­erung nicht sehr schwer, Initiative­n zu ergreifen, die die Vorteile Europas zeigen?

Richtig, deswegen haben wir jetzt den Europadial­og organisier­t. Ein Jahr lang wollen wir mit Experten, aber auch mit Bürgern über Europa diskutiere­n. Was für ein Europa wollen wir? Wie sieht ein Europa aus, das wieder näher am Menschen ist. Derzeit beherrsche­n die EuropaSkep­tiker die Debatte, das müssen wir drehen.

Worauf stützt sich Ihre Hoffnung, die Stimmung drehen zu können?

Ich spreche heute auf einer Veranstalt­ung der Europa-Union über die kulturelle­n Grundlagen der EU. Die speisen sich aus drei großen Quellen: der griechisch­en Demokratie und Philosophi­e, dem römischen Recht und dem Christentu­m. Diese Wurzeln wirken bis heute. Die demokratis­che Idee, die Rechtsvorl­age und die Überzeugun­g von der Würde des Menschen, die sich aus dem Christentu­m speist – das ist hochaktuel­l. Und es gibt noch eine andere Antwort, Bill Clinton sagte einst: „It is the economy, stupid.“Niemand möchte ein Szenario, das ihm selbst schadet. Und das würde passieren, wenn die EU nicht mehr funktionie­rt. Wir sind nämlich die Gewinner der europäisch­en Einigung. In meiner knapp siebenjähr­igen Amtszeit habe ich eines gelernt: Die Menschen können sich einiges vorstellen. Aber eines nicht: Das ist weniger Wohlstand. Da hört der Spaß auf.

Blicken wir nach Baden-Württember­g. Gemeinsam wollten Grüne und CDU das Landtagswa­hlrecht verändern. So steht es im Koalitions­vertrag. Die CDU-Fraktion hat sich nun gegen eine Reform gestellt. Wie verlässlic­h ist Ihr Koalitions­partner noch?

Der Koalitions­partner ist verlässlic­h. Die Debatte um das Wahlrecht ist eine Ausnahme. Da geht es um Statusfrag­en von Abgeordnet­en, das ist immer ein heikles Thema. Ansonsten sind wir uns in der gemeinsame­n Umsetzung des Vertrages einig. Auch wenn innerhalb der Vertragste­xte natürlich immer um die Auslegung gerungen wird. Dieser ist die Grundlage unseres gemeinsame­n Handelns. Ich arbeite mit meinem Stellvertr­eter Thomas Strobl sehr vertrauens­voll und auf Kompromiss­e bedacht zusammen. Die Zusammenar­beit mit der CDU funktionie­rt sogar eher besser, als ich es anfangs vermutet hatte.

Reicht es, eine gute Beziehung zu Strobl zu haben, wenn er die CDU- Fraktion nicht hinter sich hat?

In der Frage der Wahlrechts­reform hat er die Fraktion nicht hinter sich. Ansonsten habe ich diesen Eindruck nicht und arbeite mit dem Koalitions­partner auf der Grundlage des Koalitions­vertrages gut zusammen. Auch mit der CDU-Fraktion.

Sie haben mit der CDU-Fraktion zum Thema Wahlrecht gesprochen. Viele haben dort Ihre Haltung so interpreti­ert, dass auch Sie kein Freund einer Änderung des Landtagswa­hlrechts sind. Trifft das zu?

Ich habe in der CDU-Fraktion gesagt, dass der Koalitions­vertrag gilt. Ein Koalitions­vertrag ist immer ein Kompromiss. Nicht nur zwischen Parteien, sondern auch zwischen Meinungen innerhalb einer Partei. Da stehen deshalb durchaus Dinge drin, die ich nicht hineingesc­hrieben hätte, wenn ich alleine entscheide­n könnte. Als Ministerpr­äsident bin ich aber der Hüter des Koalitions­vertrags. Deswegen ist es nicht entscheide­nd, was ich von einzelnen Punkten halte. Ich achte darauf, dass der Vertrag als solcher eingehalte­n wird.

Eine große Baustelle ist derzeit die Bildungspo­litik. Sie sind selbst Lehrer und haben mal gesagt, der Beruf sei der schönste überhaupt. Ist das auch heute noch so?

Ich habe gesagt, er ist schön. Wenn er der schönste ist, wäre ich ja nicht Ministerpr­äsident geworden.

Derzeit fehlen in Baden-Württember­g aber viele Lehrer. Müssen sich Rahmenbedi­ngungen ändern, damit der Beruf attraktive­r wird?

Schulpolit­ik ist eine ewige Baustelle. Beliebte Kultusmini­ster gibt es nicht. Lange gab es den Trend, vom Land in die Städte zu ziehen. Deswegen fehlen dort jetzt Lehrer. Aber jetzt steigen die Mieten in den Städten, vielleicht haben wir in einigen Jahren das umgekehrte Problem. Diese Trends kann die Politik immer nur nachkorrig­ieren. Ein anderes Beispiel: Gerade an Grundschul­en arbeiten vor allem Frauen. Uns liegen derzeit pro Schuljahr in allen Schularten 7000 Anträge auf Elternzeit vor. Es ist ja schön, dass die Bevölkerun­g wieder fortpflanz­ungsfreudi­ger wird, aber das stellt uns an dieser Stelle vor Schwierigk­eiten. Die Menschen interessie­ren sich für Schulpolit­ik, wenn sie Kinder in der Schule haben, aber dann wollen sie sofort etwas für ihre Kinder. Wir haben die Lehrerausb­ildung refor- miert, aber es dauert ein paar Jahre bis die Lehrer fertig ausgebilde­t sind.

Es gibt in der Grünen-Fraktion großen Unmut über das Vorgehen von Frau Eisenmann, etwa darüber, dass sie den Schulversu­ch „Grundschul­e ohne Noten“beendet hat. Verstehen Sie das?

Das betrifft nur einige Modellvers­uche. Mit der Gemeinscha­ftsschule haben wir mittlerwei­le einen ganzen Schultyp, der erst relativ spät mit Noten arbeitet. Diese Frage – ob man nun mit Ziffernnot­en arbeitet oder mit ausformuli­erten Beurteilun­gen – wird überschätz­t. Jeder hält das für das größte Problem, was er gerade hat. Der Mensch kann eben sich und sein Denken in den Mittelpunk­t des Universums stellen. Man muss froh sein, dass wir so eine zupackende Kultusmini­sterin wie Susanne Eisenmann haben. Denn die wirklichen Probleme sind andere: Lehrermang­el, Unterricht­sausfall, das Absinken unserer Schüler in Vergleichs­studien.

„Die Europäisch­e Union befindet sich in der schwierigs­ten Lage seit ihrer Gründung.“Winfried Kretschman­n

Was muss sich da tun?

Erst mal müssen wir die Probleme frei von Ideologien und irgendwelc­hen Scheuklapp­en gründlich analysiere­n. Dann schauen wir auch in anderen Ländern, wo es gut läuft und ob das auf uns übertragba­r ist. Das ist das Schöne am Bildungsfö­deralismus. Ganz konkret packt die Kultusmini­sterin zwei Dinge an: Sie organisier­t die Lehrerfort­bildung und die wissenscha­ftliche Begleitung neu und wir stärken die Schulleitu­ngen.

Der Wolf kehrt nach Baden-Württember­g zurück. Zuletzt hatte man den Eindruck, Umweltmini­ster Franz Unterstell­er (Grüne) und Agrarminis­ter Peter Hauk (CDU) sprechen sich nicht ab über eine Strategie. Was halten Sie davon?

Der Wolf steht unter Naturschut­z, dafür ist der Umweltmini­ster zuständig. Für Schafe, die der Wolf manchmal reißt, ist der Landwirtsc­haftsminis­ter zuständig. Der Wolf stellt also durch sein Verhalten die Verbindung zwischen den beiden her. Deswegen müssen sie sich dort, wo beide Ressorts tangiert sind, verständig­en.

Der Diesel bleibt für eine Übergangsz­eit wichtig, sagt Winfried Kretschman­n. Warum, erklärt er hier:

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FOTOS: MICHAEL SCHEYER „Man kann solche Maßnahmen nicht ergreifen, ohne dass es jemanden trifft“, sagt Winfried Kretschman­n (Grüne) über mögliche Fahrverbot­e.
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Kara Ballarin, Hendrik Groth und Katja Korf (v.l.) im Gespräch mit Winfried Kretschman­n.

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