Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Virtuelle Weingartener Realitäten
Firma Ureality entwickelt komplexe Szenarien für Unternehmen – Riesiges Potenzial für die Wirtschaft
WEINGARTEN - Mit einer beinahe beängstigenden Geschwindigkeit verwischen die Grenzen zwischen dem realen Leben und den virtuellen Welten. Doch was in privaten Bereichen bislang eigentlich nur im „Gaming“, also bei Computerspielen in der Virtuellen Realität (VR), stattfindet und als Spaß und Zeitvertreib gedacht ist, bietet für die Industrie und Wirtschaft riesige Potenziale. Ob virtuelle Hausbesichtigungen, komplizierte Reparaturen von Industriemaschinen oder komplexe Schulungsszenarien. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Daher werden die virtuellen Realitäten in den kommenden Jahren einen rasanten Aufschwung erleben. Ganz vorne mit dabei: das junge Weingartener Unternehmen Ureality. „Es geht darum, die Realität zu erweitern“, sagt Gründer und Geschäftsbereichsleiter Benjamin Staiger.
Auf dem Papier gehört Ureality zum Automobildienstleister Kirchner aus Weingarten. Im Jahr 2014 von Staiger in Eigenregie gegründet und aufgebaut, wurde Ureality Ende 2016 in Kirchner integriert. Dort hatte Staiger zuvor jahrelang gearbeitet und Ureality nebenbei betreut, bis es zum Zusammenschluss kam. „Mich fasziniert die Technik seit mehr als zehn Jahren und hat mich nie losgelassen“, sagt er. Während seiner Studienzeit an der Hochschule Ravensburg-Weingarten war Staiger auf eine App gestoßen, die ihm ganz simpel Kneipen auf seinem Smartphone anzeigte, wenn er an ihnen vorbeilief – eine Frühform der sogenannten „Augmented Reality“(AR).
Und genau diese Technik ist auch eines der Erfolgsgeheimnisse von Ureality. Beim Blick durch eine spezielle Brille werden mithilfe eines Computers virtuelle Elemente, wie beispielsweise ein Motorblock, in der realen Welt angezeigt. Richtig bekannt wurde die Technik vor einigen Jahren mit der Spiele-App „Pokemon Go“, bei der die virtuellen Pokemon in der realen Umgebung auf dem Smartphone angezeigt werden. Doch für den „Business-Bereich“dürfte diese Technik mindestens genauso wertvoll sein. Gerade bei Anleitungen, wie man beispielsweise ein technisches Gerät aufbaut, könnten virtuelle Szenarien sehr hilfreich sein. Durch die „Augmented Reality“könnten Vorführvideos erstellt werden, die direkt am dreidimensionalen Körper gezeigt werden können. Zudem können Knöpfe, Schrauben oder spezielle Punkte des Gerätes direkt angezeigt und beschriftet werden. Damit können komplizierte und unverständliche Aufbauanleitungen wegfallen. „Man muss es sich nicht vorstellen, sondern sieht es direkt“, sagt Staiger. „Man braucht kein Transfervermögen von einer 2-D-Anleitung zu einem 3-D-Modell.“
Luxusapartments in Miami
Das Prinzip erklärt sich auch an einem bereits umgesetzten Auftrag von Ureality sehr gut. Eine amerikanische Immobilienfirma baut derzeit am Strand von Miami in bester Lage neue Luxusapartments. Diese hat Staiger mit seinem Team virtuell programmiert. So können Interessierte vor Ort beim Blick durch die Brille das künftige Apartment mit Blick auf Meer und Strand sehen, was wiederum die Wirksamkeit der Immobilie, die noch gar nicht gebaut ist, massiv steigert. „Da sieht man das Haus dann am Miami Beach“, sagt Staiger, der gerade wegen dieser AR ein Alleinstellungsmerkmal in der Region hat. Denn AR ist technisch – gerade im Vergleich zu VR – noch in den Kinderschuhen. „Es gibt sehr viele Start-Ups mit VR“, sagt Staiger.
Doch auch dieser Geschäftsbereich ist für Ureality interessant. Mit einer speziellen VR-Brille sieht man dann aber überhaupt nichts mehr von der realen Welt. Komplett digital kann man so beispielsweise ein virtuelles Haus besichtigen. Das bietet besonders der Immobilienbranche, wie beispielsweise Fertighausherstellern, viele Möglichkeiten. „Es gibt dadurch die riesige Möglichkeit, dem Kunden das Haus zu zeigen, ohne es aufbauen zu müssen“, sagt Staiger. „Das läuft dann über das wichtigste Input-Medium – das Auge –, und man bekommt ein gutes Gefühl für Größen.“
Darüber hinaus ist Ureality auch noch in einem weiteren virtuellen Bereich unterwegs. Bei der „Mixed Reality“werden reale Gegenstände eingescannt und erfasst und dann in eine virtuelle Realität gesetzt. Das hilft beispielsweise bei Reparaturarbeiten und ist besonders für Firmen interessant, die weltweit unterwegs sind. Bei einem Defekt müsste man zum Beispiel keinen Techniker von Deutschland nach China schicken, um das Problem ausfindig zu machen. Das defekte Gerät kann einfach „eingescannt“werden, sodass der Techniker in Deutschland das Gerät virtuell begutachten kann und die Problemlösung dann wiederum den Kollegen in China – natürlich virtuell und im Optimalfall live – erklären könnte. Wichtig dabei: „Die grundsätzliche Technologie machen die anderen, die Großen. Das können wir nicht abbilden. Wir nutzen die Kerntechnologie und Software zu entwickeln“, sagt Staiger.
Experten werden selbst ausgebildet
Und genau das macht Staiger mit seinem Team in Weingarten. „Das ist Business to Business. Das unterscheidet uns von vielen anderen Start-ups“, erklärt er. „Der Verbraucher ist nicht unsere Zielgruppe.“Dabei ist es gar nicht so einfach, an entsprechendes Fachpersonal zu kommen. „Es gibt hier keine Entwickler-Community. Das ist in Berlin natürlich eine andere Welt“, sagt Staiger. Auch München sei – in Sachen „Augmented Reality“– gut aufgestellt. In Oberschwaben sei es dagegen viel schwieriger. Daher arbeitet Ureality auch eng mit der Hochschule Ravensburg-Weingarten zusammen und generiert über interessierte Studenten potenzielle neue Mitarbeiter, die dann von Ureality ausgebildet werden.
Prominente Kunden
Im Gegenzug kommt die ländliche Region dem jungen Unternehmen aber auch zugute. Viele Firmen aus der Region schätzen einen lokalen Ansprechpartner in diesem Bereich. Das Problem dabei: Nicht alle wollen in der Zeitung genannt werden. Doch zumindest ZF und Hymer können genannt werden. Aber auch Weltkonzerne wie Daimler, BMW oder Bosch gehören zu den Kunden von Ureality, die aber in der ganzen Welt verteilt sind. Besonders sind es aber Unternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie der angelsächsische Raum mit den USA, Großbritannien, Australien und Neuseeland.
Geht es nach Staiger, dürfte das in der Zukunft auch noch weiter zunehmen. Er glaubt ohnehin, dass die unterschiedlichen Realitäten den Markt revolutionieren werden, und vergleicht das mit der Einführung von Smartphones. Jeder wolle heutzutage ein individuelles, aber günstiges Produkt. Durch die technische Entwicklung werde es künftig möglich sein, beim Blick durch die Brille Fahrpläne direkt auf dem Bus anzuzeigen oder die Navigation auf die Straße zu projizieren. „Das hört sich völlig verrückt an, ist aber irgendwie auch cool“, sagt Staiger.