Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Holpriger Start in Merkels vierte Amtszeit
Bei der Wahl fehlen der Kanzlerin 35 Stimmen – Steinmeier warnt vor „Neuaufguss des Alten“
BERLIN - Klarer Dämpfer für Angela Merkel: Die CDU-Chefin hat nach dem monatelangen Ringen um eine erneute Große Koalition von Union und SPD bei der Kanzlerwahl nur eine knappe Mehrheit erhalten. Die 63Jährige bekam in der geheimen Wahl am Mittwoch im Bundestag neun Stimmen mehr, als zu ihrer vierten Wahl als Bundeskanzlerin notwendig waren. Mehr als 30 Abgeordnete der Koalitionsfraktionen wählten sie nicht. „Ich bin einfach froh über das Vertrauen“, sagte Merkel später in der ARD. Es sei immerhin ihre vierte Wahl nach schwieriger Regierungsbildung gewesen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte die neue Bundesregierung zuvor dazu aufgerufen, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Dafür werde ein „schlichter Neuaufguss des Alten“nicht genügen, sagte er. Die Große Koalition müsse sich „ganz besonders im direkten Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern“bewähren. Union und SPD hatten bei der Bundestagswahl vergangenen September viele Stimmen verloren.
Bei der Wiederwahl zur Kanzlerin hatten 364 Abgeordnete für die CDU-Chefin gestimmt, 399 Abgeordnete haben Union und SPD zusammen. Wie viele Abgeordnete der Koalition letztlich tatsächlich nicht für Merkel gestimmt haben, blieb im Dunkeln. Nur der SPD-Abgeordnete Marco Bülow bekannte sich offen zu seinem Nein. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, meinte: „Ich bin mir sicher, dass unsere Fraktion fast vollzählig Merkel gewählt hat.“
Die Opposition sprach von einer Schlappe für Merkel. Michael Theurer, FDP-Landeschef im Südwesten, meinte, es handele sich um eine „Gernegroß-Koalition“. Unionsfraktionschef Volker Kauder nannte das Ergebnis „gut, weil Angela Merkel im ersten Wahlgang gewählt wurde“.
Auf die Frage, ob die vierte Amtszeit ihre letzte sein werde, antwortete die Kanzlerin in der ARD: „Sie kennen mich doch. Ich geb’ die Antworten immer dann, wenn’s notwendig ist.“
Helge Braun, Kanzleramtsminister
Krisen managen: Kanzleramtsminister sind immer dann gefragt, wenn es darum geht, aktuelle Krisen zu managen. Ob Fukushima oder Eurokrise – die großen Krisen kommen meist mehr oder minder überraschend. Programme entwickeln: Was sollte die Regierung als Erstes erledigen? Wie könnten die ersten 100 Tage aussehen? Dafür Pläne zu entwickeln, ist Aufgabe des Kanzleramtschefs.
Digitalisierung: Da die Digitalisierung fast alle Ministerien betrifft, soll hier der Kanzleramtschef die Koordinierung dieser Querschnittsaufgabe übernehmen. Helge Braun hat dies bereits zu seinem TopThema erklärt. Bislang allerdings ist die digitale Transformation schneller als die Regierung. (sal)
Ursula von der Leyen, Verteidigungsministerin
Ausrüstung der Bundeswehr: Die Ministerin muss in den kommenden Jahren die Mängel bei der Ausrüstung der Soldaten lösen. Das ist vor allem eine Frage des Geldes.
Internationale Einsätze: Gerade erst wurden einige Auslandseinsätze verlängert. Auch hier muss die Bundeswehr entsprechend ausgerüstet sein. Die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Partnern soll an Bedeutung gewinnen.
Nato-Ziele erfüllen: Auf das Zwei-Prozent-Ziel der Nato hat sich Deutschland verpflichtet. Wie schnell es erreicht werden soll, darüber gibt es zwischen Union und SPD jedoch unterschiedliche Ansichten. Ursula von der Leyen wird hier antreiben. (sal)
Anja Karliczek, Wissenschaftsministerin
Digitalisierung: Für die Digitalisierung und den Ausbau von Ganztagsschulen will die neue Regierung Milliarden ausgeben.
Duales System stärken: Die Stärke der deutschen Bildungspolitik, die duale Ausbildung in Schule und Betrieb, soll weiter gefördert werden. Die berufliche Bildung soll mit einem Berufsbildungspakt modernisiert und gestärkt werden. Eine Mindestausbildungsvergütung soll gesetzlich verankert werden. Mehr Bafög: Die Leistungen des BAFÖG sollen deutlich verbessert werden. Bis 2021 will man erreichen, dass die Zahl der BAFÖGEmpfänger wieder wächst statt sinkt. Auch die Stipendienkultur und Begabtenförderwerke sollen gestärkt werden. (sal)
Peter Altmaier, Wirtschaftsminister
Wohlstand für alle ist natürlich das vorrangige Thema, zumal Peter Altmaier eine Art neuer Ludwig Erhard werden soll. Das beinhaltet, vorhandenen Wohlstand zu sichern und neuen Wohlstand zu schaffen für jene, die ihn noch nicht erreicht haben.
Energiewende vorantreiben: Die Energiewende steckt noch in den Anfängen. Hier kommt es besonders darauf an, fehlende Speichermöglichkeiten zu schaffen und den schnelleren Netzausbau für alternative Energien voranzutreiben.
Handelskrieg vermeiden: Wenn Donald Trump seine Drohungen mit Strafzöllen wahr macht, muss der Wirtschaftsminister überlegen, wie Deutschland reagieren kann und wie man betroffenen Branchen helfen kann. (sal)
Julia Klöckner, Landwirtschaftsministerin
Das Tierwohllabel soll kommen. Künftig sollen Tierhaltungsbedingungen bei Fleisch und Wurst für den Verbraucher zu erkennen sein, an verschiedenen Kategorien, in denen die Tieraufzucht stattfindet.
Glyphosat: Setzt Deutschland auf ein Umsteuern der EU-Politik bei Pestiziden? Diese Frage ist sehr umstritten. An Klöckners Vorgänger Christian Schmidt (CSU) scheiterte ein Glyphosat-Ausstieg in Brüssel. Außerdem will die Bundesregierung ein GentechnikanbauVerbot für Deutschland einheitlich regeln.
Kleine Betriebe stärken: In der Landwirtschaft sollen die kleineren und mittleren Betriebe mehr ins Zentrum der Politik gerückt werden. Sie sind wichtig, um die Kulturlandschaft zu erhalten. (sal)
Jens Spahn, Gesundheitsminister
Der Pflegenotstand zählt zu den drängendsten Problemen. 55 000 Pflegekräfte fehlen, in einem Sofortprogramm sollen wenigstens 8000 neue Pflegefachstellen entstehen. Das reicht nicht. Es muss auch über die bessere Bezahlung von Pflegekräften verhandelt werden und darüber, wie man mehr ambulante Pflege stärken kann.
Die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin ist der Wunsch vieler Patienten. Kassenpatienten wollen nicht länger warten als Privatpatienten. Hier verspricht die Koalition Abhilfe. Doch wie sie es bewerkstelligen will, ist noch unklar.
Die Notfallversorgung muss verbessert werden. Dazu zählen auch eine wohnortnahe Geburtshilfe und Apotheken vor Ort. (sal)
Horst Seehofer, Innenminister
Die Flüchtlingspolitik ist das Herzensthema von Horst Seehofer. Die Begrenzung der Flüchtlingszahlen, gleichzeitig die schnelle Integration der anerkannten Flüchtlinge ist eine Aufgabe, die dem Innenminister obliegt.
Die Terrorbekämpfung hängt eng damit zusammen. Wie kann es passieren, dass Attentäter wie Anis Amri nicht abgeschoben wurden? Das wird ein Untersuchungsausschuss klären, die politischen Lehren muss Seehofer ziehen.
Heimat gehört künftig als Themenfeld zum Innenministerium. Dahinter steckt die Absicht, das von manchen verlorene Heimatgefühl wiederherzustellen, auch dadurch, dass man aufpasst, dass nicht ganze Regionen in Deutschland abgehängt werden. (sal)
Gerd Müller, Entwicklungshilfeminister
Marshallplan mit Afrika: Seine Idee, eine wirtschaftlich-soziale Partnerschaft mit Afrika zu schaffen, ist Gerd Müller bereits in der letzten Legislaturperiode angegangen.
Fluchtursachen bekämpfen: Ob in Afrika oder anderen Krisenregionen der Welt, durch Hilfe vor Ort sollen auch Fluchtursachen bekämpft werden. Textilbündnis vorantreiben:
Nach dem Brand in einer pakistanischen Textilfabrik mit 259 Toten wurden 2012 die schlimmen Arbeitsbedingungen weltweit bekannt. Auch deutsche Discounter ließen hier produzieren. Für Gerd Müller seit Jahren ein Grund, sich für ein Textilbündnis einzusetzen, das wirtschaftliche, ökologische und soziale Standards garantiert. (sal)
Andreas Scheuer, Verkehrsminister
Verkehr der Zukunft: Die Mobilität ist im Umbruch. Autos sollen künftig emmissionsfrei und autonom fahren. Beides erfordert Investitionen in Forschung und Entwicklung – und eine entsprechende Unterstützung durch den Staat. Ausbau der Verkehrswege:
Amtsvorgänger Alexander Dobrindt sprach gerne von einem Investitionshochlauf, zuletzt wurden
14,4 Milliarden Euro für 2018 bereitgestellt. Laut Koalitionsvertrag soll „mindestens“auf gleichem Niveau weiter investiert werden. Geplant ist die Gründung einer Infrastrukturgesellschaft des Bundes; Planungen sollen beschleunigt werden.
Diesel: Mit der Autoindustrie muss Scheuer über Lösungen in der Dieselkrise reden. Fahrverbote will er unbedingt vermeiden. (ume)
Olaf Scholz, Finanzminister
Schwarze Null: Die wohl größte Erwartung ist, dass Olaf Scholz die Verschuldung im Blick behält. Seit 2014 hat der Bund keine neuen Schulden gemacht – und dabei soll es bleiben.
Steuerentlastungen: Die hat die Große Koalition versprochen. Zehn Milliarden mehr sollen den Bürgern in der Tasche bleiben, aber erst ab 2021 wird der Solizuschlag für 90 Prozent der Deutschen abgeschafft.
Familien stärken: Insgesamt zwölf Milliarden Euro sind für Familien vorgesehen. Kindergeld und Kinderfreibetrag sollen erhöht werden, der Bund will dazu beitragen, dass die Kitagebühren gesenkt werden, vier Milliarden sind für den sozialen Arbeitsmarkt vorgesehen, vor allem sollen Langzeitarbeitslose unterstützt werden. (sal)
Katarina Barley, Justizministerin
Pakt für den Rechtsstaat: Die größte Aufgabe ist wohl der Pakt für den Rechtsstaat. 2000 neue Stellen sollen in der Justiz von Bund und Ländern entstehen, damit Verfahren beschleunigt werden können. Dabei kann es um schnellere Abschiebungen gehen, aber auch darum, dass der Bürger schneller zu seinem Recht kommt.
Hetze im Netz ist ein weiteres großes Thema. Das Netzwerkdurchsuchungsgesetz von Heiko Maas ist umstritten, hier wird Katarina Barley nachlegen müssen.
Musterfeststellungsklagen: Der Dieselskandal hat gezeigt, dass es für Kunden schwer ist, sich gegen die Verletzung ihrer Rechte zur Wehr zu setzen. Hier sollen Musterfeststellungsklagen den Verbrauchern in der Zukunft helfen. (sal)
Svenja Schulze, Umweltministerin
Luft sauberer machen: Laut BUND ist die Bevölkerung in der Frage der Klimaschutzziele weiter als die Politik und wünscht sich, dass der Kohleausstieg schneller gelingt. Für 2020 hat die Regierung ihr Ziel, den CO2-Ausstoß um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken, schon abgeschrieben, jetzt geht es um 55 Prozent weniger bis 2030.
Das Insektensterben soll durch ein Aktionsprogramm Insektenschutz gestoppt werden, um die Artenvielfalt zu erhalten.
Plastikmüll stoppen: Der Wunsch nach einer guten Recyclingwirtschaft ist stark. Wer die Bilder von den Weltmeeren sieht, will auch zu Hause weniger Plastik verbrauchen. Müllvermeidung und Recycling sind hier gleichermaßen gefragt. (sal)
Heiko Maas, Außenminister
Europa stärken: Ein „neuer Aufbruch für Europa“ist ein zentrales Versprechen im Koalitionsvertrag. Das muss auch Maas einlösen, auch wenn Europa längst keine reine Domäne der Außenpolitik mehr ist. Gesprächskanäle offenhalten:
Als Justizminister trat Maas gegen Rechtspopulisten auf – jetzt bekommt er es mit Staaten zu tun, in denen demokratiefeindliche Haltungen Regierungslinie sind. Doch auch zu schwierigen Partnern wie Russland und der Türkei muss Maas den Gesprächsfaden aufrechterhalten.
Krisen bändigen: Syrien, Afghanistan, Korea, das wackelnde AtomAbkommen mit Iran – die weltweite Zahl der Krisenherde ist so groß, dass UN-Generalsekretär Antonio Guterres jüngst Alarmstufe Rot für den Planeten ausgerufen hat. (ume)
Hubertus Heil, Arbeitsminister
Renten sichern: Die meisten Bürger haben Angst vor Altersarmut. Hier ist das Sozialministerium gefragt, wie angesichts der Bevölkerungsentwicklung Renten auch in Zukunft auf einem gewissen Niveau bleiben können. Bislang hat die Koalition nur die Einhaltung des Rentenniveaus von 48 Prozent bis 2025 versprochen. Jetzt geht es darum, Sicherheit für die Zukunft zu schaffen.
Befristete Arbeit: Ein großes Thema für viele ist die Abschaffung der sogenannten Kettenarbeitsverträge.
Digitaler Wandel: Die Zukunftsaufgabe schlechthin ist die Vorbereitung der Arbeitswelt auf den digitalen Wandel. Welche Arbeitsplätze sind gefährdet, welche können neu entstehen? (sal)
Franziska Giffey, Familienministerin
Paket gegen Kinderarmut: Zu den dringenden Problemen zählt die Bekämpfung von Kinderarmut. Deshalb soll für einkommensschwache Familien der Kinderzuschlag erhöht werden. Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung: Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu stärken, sollen Länder und Kommunen beim Ausbau von Kinderbetreuung gestärkt werden. Außerdem sollen Eltern weniger bis gar keine Gebühren mehr zahlen. Mehr Gleichberechtigung: Unternehmen, die bei Frauen in Führungspositionen als Zielgröße „null“angeben, sollen mit Sanktionen rechnen. Im öffentlichen Dienst soll die gleichberechtigte Teilhabe in Leitungsfunktionen bis 2025 durchgesetzt sein. (sal)
Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Europapolitik: „Die Welt wartet nicht auf uns“, hat Kanzlerin Merkel in den letzten Wochen öfters betont. Tatsächlich soll ihre erste Reise am Freitag nach Paris führen. Frankreich und Deutschland wollen vorangehen. „Einen neuen Aufbruch“verspricht der Koalitionsvertrag in Sachen Europa. Es gilt als das wichtigste Vorhaben der neuen Legislaturperiode, bei dem Merkel auf den Koalitionspartner SPD zählen kann. Soziale Grundrechte sollen europaweit mit einem Sozialpakt gestärkt werden, ein Rahmen für Mindestlohnregelungen geschaffen werden, Steuerdumping bekämpft werden und Mindestsätze für Unternehmenssteuern festgelegt werden. In der Flüchtlingspolitik will man die Verteilung europaweit besser ordnen und steuern. Das wird nicht leicht, denn Angela Merkel ist für einige osteuropäische Staaten mit ihrer Flüchtlingspolitik zum roten Tuch geworden. In der Verteidigungspolitik will man mehr zusammenarbeiten. Für die Übernahme mehr gemeinsamer Verantwortung soll die EU finanziell gestärkt werden. Auch dies ist ein kritischer Punkt. Denn sowohl die Opposition als auch Teile der Union werden genau darauf achten, inwieweit Deutschland eventuell auch Verantwortung übernimmt für die Schulden der europäischen Partner.
Außenpolitik: Zurzeit gibt es viele Baustellen, vom Syrien-Krieg über die Türkei-Krise bis zur Ukraine. Ganz zu schweigen von den Sorgen über die Trump’sche Außenpolitik. Was die Türkei angeht, will die Bundesregierung derzeit bei den EU-Beitrittsverhandlungen weder Kapitel schließen noch neue öffnen. Auch in der Handelspolitik wird die Kanzlerin gefragt sein. Sie tritt weltweit für freien Handel ein. Haushaltspolitik: Auch wenn die Kanzlerin mehr mit ihren internationalen Aktivitäten glänzt, so wird sie in diesem Jahr auch in der Haushaltspolitik gefragt sein. Es wird höchste Zeit, den Bundeshaushalt unter Dach und Fach zu bringen. Europa wartet auf einen handlungsfähigen deutschen Finanzminister und auf eine Kanzlerin, die notfalls das letzte Wort spricht. (sal)