Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Von wegen Hinterpfuiteufel
Die Schwäbische Alb hat sich von den Schlägen der Vergangenheit erholt und verzeichnet wieder eine Aufwärtsentwicklung
HETTINGEN - Es ist noch nicht lange her, da galten weite Gebiete der Schwäbischen Alb als sterbende Region: die Industrie am Ende, die Landwirtschaft unergiebig, die Bevölkerung überaltert, die Jungen auf dem Sprung nach sonst wohin – Hauptsache weit genug weg von den öden Städten und Dörfern. Auf der Zollernalb drohte Albstadt zu verkommen. Das Gros der traditionell in dieser Gegend angesiedelten Textilindustrie konnte vor 20 oder 30 Jahren im globalen Wettbewerb nicht mehr mithalten. 20 000 Arbeitsplätze fielen weg. Münsingen auf der zentralen Alb sah sich im ersten Schrecken dem Untergang geweiht, als nach der Jahrtausendwende das Aus des gleichnamigen Truppenübungsplatzes kam.
Bei Fahrten über die Alb fielen marode Ortszentren auf. Spötter nahmen sich leidende Landstriche weit im deutschen Nordosten als Vorbild und sprachen von „Vorpommern im Schwäbischen“. Dann aber muss etwas passiert sein, das eine Trendwende brachte. Jedenfalls ist die Alb nicht tot, so viel ist sicher. „Abgehängte Provinz sucht man in Baden-Württemberg vergeblich“, sagte jüngst Peter Hauk, als Minister in Stuttgart zuständig für den ländlichen Raum. Der CDU-Politiker bezog auch das seit ewigen Zeiten als rau geltende Jura-Mittelgebirge in der Landesmitte mit ein.
Mit der Erinnerung an die weniger guten Jahre im Kopf ruft eine solche Aussage eine gewisse Skepsis hervor. Beim Blick auf statistische Zahlen fällt dabei etwa Hettingen ins Auge. Mitte der 90er-Jahre hatte die kleine, nördlich von Sigmaringen gelegene Stadt noch rund 2100 Einwohner. Zwei Jahrzehnte später waren es mehr als 300 weniger. Für eine kleine Kommune eine alarmierende Entwicklung, die Böses fürchten ließ. Zu Recht? Für ein Urteil ist ein Besuch vor Ort praktisch zwingend.
Für einen ersten Überblick eignet sich das hoch über Hettingen gelegene Schloss. Es ist liebevoll renoviert und dient als Rathaus. Von hier aus lässt sich in ländlicher Idylle schwelgen. Unten schlängelt sich sanft das Flüsschen Lauchert durchs Tal. Rundherum ist viel Wald – mit vielen Wildschweinen, wie örtliche Jäger sagen. Der Blick schweift weiter. Von der hohen Warte aus gesehen wirkt die Stadt intakt. Marode Viertel fehlen. Abseits der Beschaulichkeit am Ortsrand gibt es Industrie. Zentral ist dabei eine Niederlassung des Unternehmens Trumpf, einem bedeutenden Werkzeugmaschinenhersteller. Rund 600 Leute stehen dort in Lohn und Brot.
„Wir haben Arbeitsplätze ohne Ende“, meint dann auch Fridolin Stauss, Inhaber der gleichnamigen Bäckerei in der Hauptstraße. Er ist ein bejahrter Mann, der sein ganzes Leben im Ort verbracht hat. Weshalb Stauss auch von den klassischen Anzeichen eines einstigen Niedergangs berichten kann: „Der Edeka-Laden hat schon vor ewigen Zeiten zugemacht, ebenso der Metzger.“
Am Schluss blieb nur seine Bäckerei übrig, die heutzutage eine Art Stadttreffpunkt ist. Dies war in schlechteren Zeiten nicht absehbar. „Dann sind die jungen Leute zum Studieren fortgegangen und nicht wiedergekommen“, berichtet Stauss weiter. Und jene, die es vielleicht doch zurückgezogen hätte, taten sich schwer, Baugrund in dem engen Tal zu finden – zumal sich auch die Firma Trumpf ausdehnte.
Offenbar aber ist Hettingen nicht zerbrochen. Vielleicht mit ein Verdienst der Vereine? „Die Schützen, der Musikverein, der Sportverein – wir haben Gott sei Dank noch ein funktionierendes Vereinsleben“, berichtet Georg Kley, der als Rentner in der Hauptstraße eine kleine Landwirtschaft umtreibt. Nur der Kirchenchor habe Nachwuchsprobleme. Wobei sich hier womöglich etwas widerspiegelt, das landauf, landab zu beobachten ist und mit den Pfarrern zu tun hat. Über einen eigenen verfügt Hettingen schon lange nicht mehr. Der zuständige geistliche Hirte muss inzwischen sieben Orte betreuen. Als Problem scheinen dies aber höchstens einige ältere Hettinger zu sehen. Gerade diese Generation kann sich aber gleichzeitig auf etwas freuen, das Hettingen noch nie hatte: niedergelassene Ärzte. Zwei Mediziner werden demnächst Praxen in einem extra hergerichteten Gebäude beziehen.
„Wir bereichern unsere Stadt ungemein mit diesem Angebot“, sagt Bürgermeisterin Dagmar Kuster. Es sei ein „sehr langer und intensiver Prozess“gewesen, für den man „viel Herzblut“aufgewendet habe. Kuster sieht ihre Kommune generell auf einem guten Weg. Inzwischen sei auch der Bevölkerungsrückgang gestoppt, es gebe sogar eine leichte Tendenz nach oben. Die Bürgermeisterin meint, dass Hettingen mit „mehreren herausragenden Aspekten“punkten kann: Bauplätze zu vergleichsweise günstigen Preisen, Kleinkindbetreuung und Grundschule vor Ort und eben die potente Wirtschaft mit Trumpf und weiteren Firmen.
„Abgehängte Provinz sucht man in Baden-Württemberg vergeblich.“
Landwirtschaftsminister Peter Hauck
„Wir haben Gott sei Dank noch ein funktionierendes Vereinsleben.“
Georg Kley, Rentner und Landwirt aus Hettingen
Außerdem wurde Hettingen ins baden-württembergische Förderprogramm zur Stadtsanierung aufgenommen. „Da haben wir viel vor“, betont Kuster. Es soll unter anderem verhindert werden, dass die Ortsmitte irgendwann einmal von leer stehenden Häusern geprägt wird – eine reale Gefahr, weil in solchen Vierteln gerne ältere, nach und nach wegsterbende Leute wohnen. Hettingen bietet sogar städtisches Geld, sollte ein Eigentümer ein verlassenes Gebäude abreißen wollen. Bis zu 5000 Euro gibt es als Zuschuss.
Lob für Hettingen kommt von Wolfgang Heine, Bereichsleiter Standortpolitik der Industrie- und Handelskammer Bodensee-Oberschwaben. Die Stadt gehört gerade noch zum Kammergebiet. Heine hebt das Erschließen neuer Gewerbegebiete hervor, eines davon interkommunal mit dem benachbarten Burgstädtchen Veringenstadt. Dies sei „ein wichtiges positives Signal“. Ähnlich optimistisch gestimmt gibt man sich beim Gemeindetag BadenWürttemberg. Dessen Sprecherin Kristina Fabijancic-Müller zielt auf die demografische Entwicklung ab: „In der Summe haben wir auf der Schwäbischen Alb ein Bevölkerungswachstum.“
Laut Statistischem Landesamt soll es selbst im einst gebeutelten Zollernalbkreis bis 2025 um 2,1 Prozent nach oben gehen. Dem Alb-Donau-Kreis werden sogar 4,7 Prozent Steigerung prognostiziert. Als elementar für den Aufschwung betrachtet der Gemeindetag „die Schaffung der notwendigen Infrastruktur“. Teilweise hilft hier auch das Land mit seinem Förderprogramm Ländlicher Raum mit. Zuletzt waren jährlich 50 bis 60 Millionen Euro im Topf. Wenn aber von einer „notwendigen Infrastruktur“die Rede ist, umfasst dies viele Punkte – etwa den Lebensmittelladen vor Ort, aber ebenso einen Ausbau des schnellen Internets, Ärzte, Verkehrsmöglichkeiten, Wohnungen, Arbeitsplätze et cetera.
Wer in städtischen Zentren lebt, mag all dies für normal halten. Hinter den landschaftsprägenden Wachholderheiden der Alb ist so etwas weniger naturgegeben. Wer beispielsweise vor gut 30 Jahren als Wehrpflichtiger in der Kaserne von Großengstingen landete, erlebte einen Kulturschock. Außer eingelagerten US-Atombomben in einem Munitionsdepot gab es nichts Bemerkenswertes. Dort oben wollte man nicht mal beerdigt sein. Schon längst aber ist auf dem in den 90er-Jahren aufgegebenen Militärgelände Gewerbe angesiedelt. Der Ort wirkt herausgeputzt. Neubauviertel ziehen sich in die Alblandschaft hinaus.
„In der Summe haben wir auf der Schwäbischen Alb ein Bevölkerungswachstum.“
Kristina Fabijancic-Müller, Sprecherin Gemeindetag Baden-Württemberg
Für Ökoverbände wie den BUND und NABU mag dies ein Ärgernis sein – ebenso wie das Ausweisen neuer Gewerbegebiete. Stichwort Flächenfraß. Kommunale Entwickler sehen dies anders. Für sie bedeutet Wachstum Zukunft. Dies gilt genauso für gute Straßen- oder Schienenverbindungen. Großengstingen profitiert etwa von der ausgebauten B 313, dem schnellen Weg in die Industrieregion nördlich des Albtraufs – in diesem Fall nach Reutlingen. Eine gute halbe Stunde dauert die Fahrt. Attraktiv für Pendler, die den günstigeren Wohnraum inklusive grünem Ambiente auf der Alb nutzen wollen. Christoph Heise, Sprecher der Industrie- und Handelskammer Reutlingen, sieht darin einen bedeutsamen Faktor dafür, dass Alb-Orte Zuwachs verzeichnen können: „Bis zu Gewerbe- oder Industriezentren ist es meist nicht weit.“
Noch besser lässt sich dies ein paar Kilometer weiter in Münsingen beobachten: Neues Gewerbe auf altem Militärgrund – und eine noch günstigere Verkehrsanbindung als in Großengstingen. Münsingen ist nicht nur Pendlerstadt für Reutlingen oder Metzingen, sondern ebenso für das südöstlich gelegene Ehingen mit der Liebherr-Niederlassung für Fahrzeugkranbau. Heise verweist darauf, dass die Alb „viele solche überraschend schwergewichtige Unternehmen kennt“. Auf der östlichen Alb ist Heidenheim ein alter Standort für solche Firmen. Dort beschäftigt der Maschinenbauer Voith 4500 Menschen. Im Bereich der Zollernalb hilft Groz-Beckert als Weltmarktführer bei der Herstellung von industriellen Maschinennadeln der Stadt Albstadt, wieder auf die Beine zu kommen.
Die mittlere Schwäbische Alb darf mit dem Etikett Biosphärengebiet werben. Es umreißt eine besonders geschützte Landschaft in der Größe von rund 85 000 Hektar. Mittelpunkt ist der ehemalige Truppenübungsplatz Münsingen. „Ein Leuchtturmprojekt des Landes“nannte es 2005 der damalige badenwürttembergische Ministerpräsident Günther Oettinger. Offenbar zieht es in der Tat vermehrt Besucher an, wie aus der Gegend verlautet. Eine Entwicklung, die wieder mal Spötter auf den Plan ruft. Statt von Vorpommern im Schwäbischen ist jetzt die Rede von „Hinterpfuiteufel zum Biosphärengebiet“.
Klingt doch ganz vornehm.