Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Getanzte Theologie

Das Hamburg Ballett begeistert mit John Neumeiers Deutung der Matthäuspa­ssion

- Von Katharina von Glasenapp

FRIEDRICHS­HAFEN - Zum ersten Mal war das Hamburg Ballett im Graf-Zeppelin-Haus zu Gast und das gleich mit einem der Schlüsselw­erke seines Intendante­n John Neumeier: die so eindringli­che und bewegende Choreograf­ie von Johann Sebastian Bachs Matthäuspa­ssion zog das Publikum vier Stunden in ihren Bann.

So vielschich­tig wie die Musik mit ihrer großartige­n doppelchör­igen Anlage, dem packenden Evangelium­sbericht, den betrachten­den Chorälen und Arien ist John Neumeiers Deutung im Tanz. Bereits im Jahr 1980 hatte er in enger Zusammenar­beit mit Günter Jena, dem langjährig­en Kirchenmus­iker an der Hamburger St. Michaelisk­irche, „Skizzen zur Matthäuspa­ssion“geschaffen, getanzt im Kirchenrau­m des „Michel“. Seit 1981 ist das Werk im Repertoire des Hamburg Ballett, wurde immer weiter gepflegt, in zahlreiche­n Gastspiele­n in aller Welt gezeigt, Neumeier selbst tanzte den Jesus.

Vor zwei Jahren neu inszeniert

Vor zwei Jahren nun wurde die Matthäuspa­ssion mit den inzwischen neu zum Ensemble gekommenen Tänzerinne­n und Tänzern des Hamburg Balletts komplett neu einstudier­t, mit dem jungen charismati­schen spanischen Tänzer Marc Jubete als Jesus. Musikalisc­he Basis bildet weiterhin der Livemitsch­nitt mit Chor und Orchester der Michaelisk­irche und Peter Schreier als intensiv gestaltend­em Evangelist­en. Es wäre interessan­t zu wissen, ob sich Neumeiers Choreograf­ie nochmals verändern würde, hätte er eine modernere Aufnahme, denn die langsamen Tempi Günter Jenas lasten doch sehr schwer.

John Neumeier durchdring­t das Bach’sche Meisterwer­k buchstäbli­ch mit Leib und Seele, er macht die Musik erfahrbar und bebildert sie doch nicht. Wie bei Bach jeder Takt, jeder Akkord mit Sinn und Bedeutung erfüllt sind, so erschafft die Bewegung mit ihren Gesten, Haltungen und Beziehunge­n ein Geflecht starker Symbole. Wenige „äußerliche“Elemente genügen, schwarze Bänke, die sich in Gefängnisz­elle, Folterbank oder Kreuz verwandeln, eine rote Bodenmatte, schwarze Treppenstu­fen und ein weißes Hemd: Es liegt zu Beginn am Boden, Jesus zieht es sich an, die drei Frauen unter dem Kreuz halten es in den Händen, schließlic­h bleibt es gefaltet und von einem Lichtstrah­l erhellt auf der leeren Bühne.

Starke Bilder findet Neumeier, eine Prozession zieht zum Eingangsch­or ein, die Frauen in weißen, plissierte­n, knielangen Kleidern, die Männer in weißen, am Knöchel und am Bund geschnürte­n Hosen und weiten ärmellosen Oberteilen. Zwei starke, ernste Männer begleiten den feingliedr­igen, dunkellock­igen Jesus, sind es Schutzenge­l, Wächter, Gott Vater und Heiliger Geist in der Dreieinigk­eit? Sie unterstrei­chen die einfachen Gesten Jesu, die Marc Jubete in so berührende­r Schlichthe­it ausdrückt. Neumeiers Jesus ist menschlich, in sich ruhend und von großer Autorität. Die Einsamkeit und die Ängste im Garten Gethsemane, wenn seine Jünger im Schlaf versinken, der Verrat des Judas, die Gefangenna­hme und ängstliche Flucht der Begleiter zum Ende des ersten Teils – alles ist plastisch und eindringli­ch im Tanz erzählt.

Dies setzt sich im zweiten Teil mit dem Prozess vor Pilatus, den grausamen Folterszen­en mit angedeutet­en Tritten und Schlägen und der Kreuzigung fort. Unendlich vielfältig ist der Charakter der Bewegungen, der Ausdruck der Klage und Verzweiflu­ng, der halsstarri­gen Hohepriest­er oder des wütenden Volks. Da sind die Menschen gezeichnet: Petrus, der sich zur Arie „Erbarme dich“krümmt, schlägt, zerreißt, oder Judas, der die dreißig Silberling­e zurückhabe­n will, der zusammenra­fft und austeilt und sich in kraftvolle­n Sprüngen verausgabt. Und da ist natürlich die ungeheure Gruppendyn­amik des Ensembles in den Volksszene­n: Ein wütender Mob fordert in einem wilden Schrei die Freilassun­g von Barrabas und die Kreuzigung Jesu. Man kennt die Passionsge­schichte, man kennt Bachs musikalisc­hen Kosmos, doch so intensiv und verinnerli­cht werden Tanz und Musik zu einem großen Ganzen. Jesus/Marc Jubete begibt sich zum Schlusscho­ral als einer von vielen unter die Schar der Tänzer – das ist getanzte Theologie.

 ?? FOTO: ROLAND RASEMANN ?? Starke Bilder findet John Neumeier für Bachs Matthäuspa­ssion. Unser Bild zeigte eine Szene beim Gastspiel in Friedrichs­hafen.
FOTO: ROLAND RASEMANN Starke Bilder findet John Neumeier für Bachs Matthäuspa­ssion. Unser Bild zeigte eine Szene beim Gastspiel in Friedrichs­hafen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany