Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kultur leben
Kultur ist Begegnung, eigentlich eine Binsenweisheit. Und doch ist es nie verkehrt, sich diese gesellschaftsstärkende Qualität immer mal wieder bewusst zu machen. Ein zusätzlicher Vorteil unserer überschaubaren Region fernab der großen Städte: man trifft bei Veranstaltungen aufeinander, ohne sich zu verabreden. Dass das in einzelnen Genres aufgrund der gemeinsamen Interessenlage ganz nebenbei passiert, ist häufig.
Fährt etwa der Jazzfan vom Bodensee gerne mal ins Schussental, wenn hier Außergewöhnliches geboten wird, so lässt der Gegenbesuch nicht lange auf sich warten. Das dürfte etwa am Donnerstag dieser Woche der Fall sein, wenn im Casino-Kulturraum Friedrichshafen das Wallace Roney Quintett aufspielt. Der 58-Jährige perfektionierte sein Spiel bei Art Blakey’s Jazz Messengers, darauf folgte die Zusammenarbeit mit dem Schlagzeuger Tony Williams. Von Miles Davis unter die Fittiche genommen, spielte Wallace Roney bei dessen letztem Montreux-Auftritt 1991 Seite an Seite mit dem Meister und wurde gar als dessen Nachfolger gehandelt. Heute ist er längst eigenständig geworden, hat seinen eigenen Sound und seine musikalische Identität gefunden – Bebop trifft auf HipHop und Funk. das Literaturhaus Gottlieben Tägerwilen gleich hinter der Schweizer Grenze ist nur mit Aufwand zu erreichen. Doch bietet es hiesigen Literaturfeinschmeckern genügend Anlässe zur Anreise. So am 23. März, wenn Bernhard Echte und Walter Feilchenfeldt ihr Mammutprojekt „Der Kunstsalon Cassirer“vorstellen. Paul Cassirers Kunstgalerie am Berliner Tiergarten war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihrer Zeit voraus, gilt aber heute als wesentlicher Wegbereiter der Moderne. Auf tausenden von Seiten haben das Echte/Feilchenfeldt in bisher sechs Bänden detailreich rekonstruiert. In Archiven wurde nach Kritiken gesucht, die Bildmotive der vielen Ausstellungen abgebildet, Zusammenhänge hergestellt – so wird die enorme Bedeutung des Hauses für die Entwicklung des Kunstgeschehens im 20. Jahrhundert dargelegt. Eine verlegerische Glanztat.
Viele Jahre hatte Cassirer gegen konservativ-nationale Vorurteile, gegen Ignoranz und Ressentiment angekämpft, erst um 1910 setzte schließlich breite Anerkennung seiner Arbeit ein. Van Gogh, Cézanne und Munch wurden richtungsweisenden Leitfiguren der jungen Künstlergeneration, die herausragenden Vertreter der Moderne wurden in einer Dichte und Qualität präsentiert, wie sie heute selbst in großen Museen nicht mehr geboten werden kann. Echte und Feilchenfeldt stellen ihr Standardwerk über die Anfänge der Galerie 1898 bis zum Durchbruch um 1910 in Gottlieben vor und berichten von ihrer so aufwendigen wie ergiebigen Recherchearbeit.
borrasch@gmx.de