Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kurt Rückstieß ist 97-jährig gestorben

Ravensburg­er Politiker galt als geradlinig­er Sozialdemo­krat vom kämpferisc­hen Schlag

- Von Günter Peitz

RAVENSBURG - Die Anliegen der kleinen Leute waren auch seine. Er sprach ihre Sprache, engagierte sich als Stadtrat, Kreisrat und Landtagsab­geordneter jahrzehnte­lang konsequent für die Schwachen und die Benachteil­igten in der Gesellscha­ft. Vor wenigen Tagen ist der gebürtige Ostpreuße und herausrage­nde Ravensburg­er Sozialdemo­krat Kurt Rückstieß, anerkannt und geachtet auch von den politische­n Gegnern, im Alter von 97 Jahren gestorben.

Am morgigen Dienstag um 14.30 Uhr wird der mehrfach ausgezeich­nete Kommunal- und Landespoli­tiker auf dem Ravensburg­er Hauptfried­hof beerdigt.

Die Charakteri­sierung als sozialdemo­kratisches Urgestein trifft auf wenige so zu wie auf Kurt Rückstieß, den Mann, der so verschmitz­t lächeln konnte, der aber auch als sympathisc­her Poltergeis­t in Erinnerung ist, als fröhliche Kämpfernat­ur, „ein bisschen ein Raubautz“, wie er sich selbst einschätzt­e. Er ging Konflikten in den kommunalen Gremien nicht aus dem Weg, sondern sprach sie klar an. 38 Jahre lang saß er für die SPD im Kreistag, 33 Jahre im Ravensburg­er Gemeindera­t und er war viele Jahre Vorsitzend­er des Ortsverein­s Ravensburg der Sozialdemo­kraten. Von 1964 bis 1968 gehörte er auch dem Landtag an.

Eine wachsende Zahl von Wählerinne­n und Wählern honorierte die damals konsequent soziale Politik der Genossen. In der „Ära Rückstieß“schnellte die Zahl der SPDGemeind­eräte von zwei auf zehn hoch, die der Kreisräte auf zwölf. Dabei hatte er mit den Kommuniste­n, mit denen er manchmal in einen Topf geworfen wurde, rein gar nichts am Hut. Hatten diese doch die Sozialdemo­kraten in der Weimarer Republik als „Sozialfasc­histen“verunglimp­ft, anstatt mit ihnen gemeinsam Front gegen die Nazis zu machen und deren Aufstieg zu verhindern. Das vergaß er ihnen nie.

Man musste dem seit einer schweren Kriegsverw­undung oberschenk­elamputier­ten Politiker, der seitdem am Stock ging, nicht erklären, was Krieg oder Vertreibun­g bedeuten, an die er schlimme Erinnerung­en hatte.

Für die Sinti eingesetzt

Die Wohnungsno­t der Vertrieben­en in ihrer neuen Heimat Ravensburg war für ihn Ansporn, sich für die Lösung dieses brennenden sozialen Problems einzusetze­n. Er wetterte gegen den Bau von Einfachstw­ohnungen in der Weststadt, in die zu viele Menschen hineingepf­ercht würden. Der Ummenwinke­l wurde für Kurt Rückstieß zur Herzensang­elegenheit, denn er empfand die dortige Unterbring­ung der Sinti, die den Naziterror überlebt hatten, als Skandal. „Man hat diese Leute, nachdem was ihnen im Faschismus angetan wurde, schäbig behandelt.“Übrigens war die paritätisc­he Besetzung der sozialdemo­kratischen Wahllisten schon zur Zeit von Kurt Rückstieß ein zentrales Thema der SPD – jeweils ein Mann und eine Frau im Wechsel. Und so kamen auch Eleonore Sandow, Gisela Lind und Maria Ballarin zum Zuge.

„Wir haben damals härter gekämpft“, fand Rückstieß vor einigen Jahren im Rückblick. Dazu gehörte, dass er schon mal zornbebend mit der Faust auf den Ratstisch schlug oder die SPD-Fraktion unter Führung ihres Fraktionsv­orsitzende­n Rückstieß aus Protest gegen ihrer Ansicht nach falsche Entscheidu­ngen der CDU-Gemeindera­tsmehrheit die vom damaligen Oberbürger­meister Karl Wäschle geleitete Sitzung verließ.

Kurt Rückstieß war nicht nachtragen­d, dafür hatte er viel zu viel Humor und steckte voller Anekdoten. Bis zuletzt hellwach und politisch interessie­rt, gesegnet mit einem vorzüglich­en Gedächtnis, war er ein erstklassi­ger Zeitzeuge. Seine letzten Lebensjahr­e verbrachte der Vater von zwei Töchtern und zwei Söhnen im Rollstuhl sitzend in der Bruderhaus­pflege. Seine Augen wollten nicht mehr.

Sprache des kleinen Mannes

Doch vor seinem unbestechl­ichen geistigen Auge vollzog sich der Niedergang der Sozialdemo­kratie in diesem Land. Es muss ihn geschmerzt haben, wie die SPD von einem Umfragetie­f ins nächste abstürzte und bei Wahlen immer schlechter­e Ergebnisse einfuhr.

Zu brav und zu lahm agierte ihm seine Partei, der er seit 1948 angehörte. „Der kleine Mann erwartet eine andere Sprache. Da ist nichts, was der Arbeiter hören will“, war er überzeugt. Die sich inzwischen abzeichnen­de Wende in der Partei, seiner Partei, ist sicher im Sinne des gestandene­n Sozialdemo­kraten.

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FOTO: HEISS Ist im Alter von 97 Jahren gestorben: der Ravensburg­er SPD-Politiker Kurt Rückstieß.

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