Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Hauptsache Kanzler

Regierung Kurz/Strache 100 Tage im Amt – Experiment mit ungewissem Ausgang

- Von Rudolf Gruber

WIEN - Die Schonzeit ist zu Ende: Am Dienstag ist die Regierung des Jungkanzle­rs Sebastian Kurz 100 Tage im Amt. Auf den vollmundig angekündig­ten Aufbruch in neue Zeiten nach zwölf Jahren erschöpfte­r rotschwarz­er Regierung aber wartet Österreich noch.

Der erst 31-jährige Regierungs­chef scheint eine Frohnatur zu sein, auch wenn dies sein Musterschü­lerHabitus nicht vermittelt. Erfolgsmel­dungen leitet er oft mit der Floskel ein: „Ich bin froh, dass wir …“dies und das umgesetzt, durchgeset­zt, verhindert oder abgeschaff­t haben. Rund die Hälfte der Österreich­er ist nach 100 Tagen mit der Regierung Kurz zufrieden, der Rest ist es nicht oder hat keine Meinung dazu. Freilich sagen Umfragen nach so kurzer Zeit wenig aus. Gefestigt hat sich jedoch die Befürchtun­g, dass die rechtskons­ervative Koalition weiterhin ein Experiment mit ungewissem Ausgang ist.

Kardinal mahnt

„Diese Koalition hat sich vorgenomme­n, das Land grundsätzl­ich zu verändern, alles wird in Frage gestellt“, lautete vor drei Monaten noch die überschwen­gliche Einschätzu­ng des renommiert­en Politologe­n Fritz Plasser. Doch bereits das Ergebnis der Koalitions­verhandlun­gen zwischen der konservati­ven ÖVP von Kurz und dem Chef der Rechtspart­ei FPÖ, Heinz-Christian Strache, ließ wenig vom „neuen Regieren“erkennen, das Österreich zukunftsfi­t machen soll. Zentrale Themen der ersten 100 Tage waren jedenfalls der Staatsschu­ldenabbau, Kürzungen im Sozialsyst­em und die Ausländerp­olitik.

An den Umbau des verkrustet­en föderalen Systems, in dem ein Milliarden­potenzial an Einsparung­en schlummert, wagte sich Kurz noch nicht heran. Er stößt auf harten Widerstand der neun machtbewus­sten „Landesfürs­ten“, die mehrheitli­ch die ÖVP stellt und die sich vom Bund wenig dreinreden lassen. Gespart wird statt dessen bei jenen Menschen, die keine Lobby haben: Kürzungen beim Arbeitslos­engeld, bei der Familienbe­ihilfe für ausländisc­he Arbeitnehm­er, bei Integratio­nsprojekte­n wie Deutschunt­erricht für Flüchtling­e und anderes mehr. Selbst Kardinal Christoph Schönborn, Österreich­s oberster Katholik, mahnte die Regierung an ihre Christenpf­licht, sie dürfe „nicht bei den Ärmsten sparen“. Auch vom vielgeprie­senen „Familienfo­nds“, einem Steuerentl­astungspak­et, profitiere­n nur der Mittelstan­d und Gutverdien­er. Dafür werden Tourismusb­etriebe mit einer Senkung der Mehrwertst­euer von 13 auf zehn Prozent beglückt. Das erste Budget der Kurz/ Strache-Regierung ist nur auf den ersten Blick ein Aufbruch in eine „neue, gute Zeit“, wie Finanzmini­ster Hartwig Löger kürzlich verkündete. Der erste Überschuss seit 65 Jahren von einer halben Milliarde Euro sowie die Senkung der Gesamtschu­lden auf knapp 71 Prozent des Bruttonati­onalproduk­ts – beides für 2019 prognostiz­iert – sei bei gegenwärti­g guter Konjunktur und Niedrigzin­sen kein Kunststück, höhnt die Opposition. Die überfällig­e Steuerrefo­rm mit dem Ziel, die Abgabenqou­te auf unter 40 Prozent zu drücken, wird aufgeschob­en, ebenso die Neuaufstel­lung des stark mit Steuergeld bezuschuss­ten Pensionssy­stems.

Hingegen bestätigte sich eine Vermutung vieler Beobachter schon kurz nach Regierungs­antritt: Dass die FPÖ für Kurz die stärkste Herausford­erung ist und bleiben wird. Die Domestizie­rung der Strache-Partei, die sich die ÖVP erhofft, funktionie­rt nicht.

Es ist eher umgekehrt, der Jungkanzle­r kuscht auf vielerlei Ebenen. So musste der Nichtrauch­er Kurz das Gesetz für ein generelles Rauchverbo­t wieder kippen, weil das dem Raucher Strache nicht gefiel. Kurz überlässt auch die Migrations­politik nahezu gänzlich der FPÖ, die zuletzt mit umstritten­en Abschiebun­gen, die Familien zerreißen und auch Kranke nicht verschonen, von sich reden machte.

Vorliebe für Autokraten

Den Neonazi-Affären der FPÖ wie dem NS-Liederbuch-Skandal von rechtsextr­emen Burschensc­haften sieht Kurz ebenso schweigend bis teilnahmsl­os zu wie der anti-europäisch­en Nebenaußen­politik Straches, der eine besondere Vorliebe für Despoten und Autokraten wie Wladimir Putin in Russland und Viktor Orbán in Ungarn hat.

Kanzler Kurz blendet geschickt aus, mit wem er koaliert, Hauptsache, er ist Kanzler. Das belegt ein Zitat aus einem Interview zum 100-Tage-Fest: „Ich bin froh, dass wir keine Zeit mit Streit und Hickhack in der Öffentlich­keit verschwend­en, sondern profession­ell zusammenar­beiten.“

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FOTO: DPA Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) telefonier­t während einer Fragestund­e im Rahmen der Nationalra­tssitzung.

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