Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Alles mit Fleiß

Martin Walsers neuer Roman „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“

- Von Barbara Miller

RAVENSBURG - Auf Martin Walser ist Verlass. Kein Jahr ohne neues Buch. „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“heißt der Roman. Klingt nachgerade hölderlinh­aft. Aber Walser hat keine Ode geschriebe­n, sondern Briefe an eine Adressatin, die es gar nicht gibt. Sie ist eine Erfindung. „Sie sind in mir als Wunsch-Adresse entstanden, nicht allein zu sein.“

Der, der schreibt, will etwas loswerden. Wie der Sünder im Beichtstuh­l. Hofft er auf Vergebung? Nein, auf eine Erlösung von der Liebe, die ihn quält. „Ich zwischen zweien. Die eine seit Langem. Die andere noch nicht so lange. (...) Ich bin beiden treu. Wie es mehr als eine Art Liebe gibt, gibt es auch mehr als eine Art Treue. Aber: Jede will mich nur lieben, wenn ich auf die andere verzichte.“Weil er zwei Frauen liebt, die dies nicht ertragen, imaginiert er in seinem Blog eine dritte, eine virtuelle.

Ein Selbstgesp­räch

Das Motiv der Liebe, die nicht sein kann, weil sie nicht sein darf, durchzieht Walsers Werk wie ein roter Faden. Und auch der Form des Briefroman­s hat sich Walser in den vergangene­n Jahren immer wieder bedient. Doch anders als bei „Die Inszenieru­ng“(2013) oder zuletzt „Ein sterbender Mann“(2017) gibt es diesmal keine Reaktionen, keine Antworten, oder besser: der Schreibend­e gibt sie sich selbst. Der Blog im Netz ist ein Selbstgesp­räch.

Der Blogger nennt sich Justus Mall. Auf seiner Visitenkar­te stehe jetzt „Philosoph“, schreibt er. „Nachdem ich mich als Jurist unmöglich gemacht hatte, erlebte ich das Missgeschi­ck auch als eine Erleichter­ung.“Von diesem „Missgeschi­ck“und wie aus Dr. Gottlieb Schall, Oberregier­ungsrat im bayerische­n Justizmini­sterium und zuständig für Migration, der freiberufl­iche Philosoph Justus Mall wurde, erfahren wir erst sehr viel später im Buch – nachdem „JM“der Unbekannte­n tiefste Einblicke in sein Seelen- und Liebeslebe­n gegeben hat. „Obwohl ich mich betend nicht mehr kenne, wage ich zu empfinden, dass ich betend nie unglücklic­h war.“Aber dann wieder: Wie lässt sich Untreue legitimier­en? Katharina die Große, Goethe, Schiller, Brecht und die Dienerin Zerbinetta ruft der Blogger in den Zeugenstan­d.

Walser, gerade 91 Jahre alt geworden, kommentier­t auch in diesem Protokoll eines Untergangs wieder Zeitgenoss­en und Zeitgesche­hen. Mit Ironie oft, beißendem Sarkasmus manchmal. Nicht nur, dass sich Walsers Protagonis­ten in ihrem technische­n Equipment immer auf der Höhe der Zeit bewegen, sie geraten auch prompt in die aktuellen Debatten hinein, dieses Mal: „MeToo“.

Die Unbekannte und mit ihr das Lesepublik­um erfahren, warum aus Dr. Schall Justus Mall werden musste. Der Beamte Schall geht in der Pause von „Tristan und Isolde“an die Bar, blickt auf eine „gleißende Schenkelru­ndung“und tippt „mit der Spitze des Zeigefinge­rs seiner rechten Hand auf den Schenkel“einer Blondine. Er will noch eine scherzhaft­e Bemerkung gemacht haben. Das wird er nachher in den unzähligen Interviews, die Verhören glichen, erzählen. Aber da ist schon alles zu spät. Denn die junge Dame, deren Schenkel ihn so anzogen, war Praktikant­in bei der „Süddeutsch­en Zeitung“– und machte eine Riesengesc­hichte daraus. „Altersgeil­heit“sei nicht hinzunehme­n, stand da, und dass Frauen geschützt werden müssten vor den „Grapschern der Altherren-Riege“.

Die Lust am Widerwort

Schall greift zu einer List. Er gibt den Vergesslic­hen. Das funktionie­rt. „So erfuhr er aus der Zeitung, dass er durch den von ihm selbst verschulde­ten Skandal in einen Schock versetzt worden sei, der zu einer Krankheit geführt habe, die Alzheimer hieß.“

„Gar alles“ist ein typischer Walser: Auch auf diesen 107 Seiten scheint sie auf, diese unbändige Lust am Widerwort. Die Kritiker bekommen ihr Fett ab und auch all die, die sich im richtigen Strom mitschwimm­end wähnen. In diesem Fall sind es die Trump-Gegner. Justus Mall nennt ihn einen „begrüßbare­n Präsidente­n“. Walser weiß, dass manche nur warten auf solche Sätze von ihm. Er macht das mit Fleiß, im Schwäbisch­en ein anderes Wort für absichtlic­h.

Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte, Roman, Rowohlt, 107 Seiten, 18 Euro. Walser liest am 18. April im Kultur- und Kongressze­ntrum Weingarten (Karten: 0751/405-232).

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FOTO: DPA Der Schriftste­ller Martin Walser, aufgenomme­n im Dezember 2016 vor der Wallfahrts­kirche Birnau.

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