Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Einsamkeit hat Konjunktur

Immer mehr Deutsche sehen Politik in der Pflicht

- Von Sabine Lennartz

BERLIN (sal/epd) - 51 Prozent der Deutschen bezeichnen Einsamkeit als großes Problem. Das hat eine Umfrage von Infratest Dimap im Auftrag der ARD ergeben. Eine Mehrheit von 57 Prozent sieht in Einsamkeit vor allem ein persönlich­es Problem, aber 38 Prozent begrüßen den Vorstoß von Politikern und Experten, dass die Regierung einsamen Menschen aus der sozialen Isolation helfen soll.

Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach schlägt einen Beauftragt­en vor, der den Kampf gegen die Einsamkeit koordinier­t. Auch die beiden Familienau­sschussmit­glieder Leni Breymaier (SPD) und Josef Rief (CDU) sehen die Politik in der Pflicht, sich das Problem genauer anzuschaue­n. Breymaier hält genau wie Rief Vereine und Kirchen für besonders wichtig. Der Ulmer Hirnforsch­er Manfred Spitzer, der sich mit den Folgen von Einsamkeit beschäftig­t, sagt: „Ein Ehrenamt ist besser als Aspirin.“

BERLIN - Einsamkeit – jeder zweite Deutsche bezeichnet diesen Zustand laut ARD-Deutschlan­dtrend schon als Problem, 17 Prozent sogar als großes. „Einsamkeit ist schmerzhaf­t, ansteckend, tödlich“, warnt der Ulmer Gehirnfors­cher Manfred Spitzer. Und die schlimmste Nachricht ist: Sie nimmt zu.

„Die Digitalisi­erung bringt Menschen nämlich nicht, wie oft behauptet, zusammen, sondern bewirkt eine Zunahme von Unzufriede­nheit, Depression und Einsamkeit“, so Spitzer in seinem neuen Buch: „Einsamkeit, die unerkannte Krankheit“(Droemer-Knaur, 19,99 Euro). Für ihn ist sie längst „Killer Nummer 1“. Doch nicht nur Spitzer schlägt Alarm.

London hat Einsamkeit­sminister

Ein Einsamkeit­sminister? In Berlin zogen viele die Augenbraue­n hoch, als im Januar bekannt wurde, dass Großbritan­niens Regierungs­chefin Theresa May Einsamkeit zur Regierungs­sache macht. Sie ernannte die Abgeordnet­e Tracey Croach zum Minister „for lonelyness“.

Ein britischer Untersuchu­ngsbericht hat 2017 ergeben, dass Einsamkeit genauso gesundheit­sschädlich ist wie das Rauchen von 15 Zigaretten täglich. Theresa May sieht die Zielgruppe vor allem bei Senioren, Pflegenden und Trauernden. Manfred Spitzer hält auch die Jugend für betroffen. Man trainiere Kindern eine „überborden­de Selbstbezo­genheit“an, ohne daran zu denken, dass auch eine noch so große Anzahl von Einsiedler­n oder Narzisten keine funktionie­rende Gemeinscha­ft ergebe.

Immer mehr Singles

Fest steht: Immer mehr Menschen leben alleine, Familien brechen vermehrt auseinande­r. 17 Millionen Single-Haushalte gibt es schon in Deutschlan­d. Und die Kontakte nehmen ab. Wer früher noch aus dem Haus ging, um Geld zu holen, eine Fahrkarte zu kaufen oder Kleider zu probieren, kann das heute alles in seinen eigenen vier Wänden erledigen – und anschließe­nd über Einsamkeit klagen. Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach hat angeregt, dass es für das Thema eine verantwort­liche Stelle – bevorzugt im Gesundheit­sministeri­um – geben sollte, die den Kampf gegen die Einsamkeit koordinier­t.

Auch im Koalitions­vertrag wird das Problem benannt: „Familiäre Bindung und ein stabiles Netz mit vielfältig­en sozialen Kontakten fördern das individuel­le Wohlergehe­n und verhindern Einsamkeit. Angesichts einer zunehmend individual­isierten, mobilen und digitalen Gesellscha­ft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgrup­pen vorbeugen und Vereinsamu­ng bekämpfen.“

„Epidemie im Verborgene­n“

Josef Rief, CDU-Bundestags­abgeordnet­er aus Biberach und Mitglied des Familienau­sschusses, meint, dass die zunehmende Vereinsamu­ng ein Thema ist, um das man sich kümmern muss. „Großfamili­en lösen sich auf, der eine Sohn studiert in Hamburg, der andere in München, immer mehr Alte, Junge oder Kinderlose fühlen sich alleine“, so Rief. Auch die neuen Medien trügen dazu bei, dass man weniger miteinande­r rede. Doch man könne ja schlecht abschaffen, dass Menschen vor ihrem PC sitzen. Man könne aber sensibilis­ieren, ein Bewusstsei­n für die Nachteile schaffen. Einsamkeit sei eine „Epidemie im Verborgene­n“. Auch in seine Bürgerspre­chstunde kämen manchmal Menschen, die einfach mal reden wollten.

Die baden-württember­gische SPD-Abgeordnet­e und Landespart­eichefin Leni Breymaier hat sich schon genau informiert, was in Großbritan­nien geschieht. Doch sie meint, dass in Deutschlan­d das Ehrenamt, Vereine und Kirchen anders funktionie­ren. Sie kennt die Probleme, wenn bei Älteren plötzlich der Freundeskr­eis wegbricht, weil viele sterben, wenn die Kinder wegziehen und wenn ältere Menschen in viel zu großen Wohnungen übrig bleiben, weil sie hier wenigstens die Nachbarsch­aft noch kennen. Sie selbst betreut eine über 80-jährige Dame, und sie freut sich, dass es so viel Ehrenamt in Deutschlan­d gibt, dass Menschen einmal in der Woche mit Älteren spazieren gehen.

Eine Einsamkeit­sministeri­n, wie in Großbritan­nien, hält Breymaier nicht für nötig. Das Thema sei im Familienmi­nisterium gut angesiedel­t. Aber sie findet es wichtig, dass man dort und im Familienau­sschuss im guten Dialog bleibe mit Kirchen, Kommunen und Vereinen. „Es ist richtig, dass wir wach bleiben.“

„Facebook-Depression“

Dass Einsamkeit nicht gesund ist und das Immunsyste­m schwächt und Stress auslösen kann, ist allgemein bekannt. Dass es sogar eine ansteckend­e Krankheit ist, sagt Manfred Spitzer. Er spricht schon von der „Facebook-Depression“. Soziale Onlinemedi­en verursacht­en Einsamkeit, Angst und Depression. Wer sie täglich mehr als zwei Stunden nutze, habe gegenüber jemanden mit einer halben Stunde Nutzung die doppelte Wahrschein­lichkeit, sich einsam zu fühlen.

Die Rezepte für die „Digital Natives“sind allerdings dieselben wie einst die für ihre Großmütter und Väter: Auch wenn aus Pfadfinder­n und Wandervöge­ln heute Baumbader und Outdoor-Adventure-Spezialist­en geworden sind – Geselligke­it, Spiele, Unterhaltu­ngen, Gemeinscha­ft und Aufenthalt in der Natur helfen am besten gegen Einsamkeit.

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FOTO: DPA Der Ulmer Professor und Psychiater Manfred Spitzer hält Einsamkeit für ansteckend, schmerzhaf­t und tödlich. In Großbritan­nien ist das Problem bereits Chefsache – es gibt dort nun einen Einsamkeit­sminister.

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