Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

SPD debattiert über Hartz IV

Heil für Gespräche über solidarisc­hes Grundeinko­mmen

- Von Hannes Koch

BERLIN (AFP) - Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) zeigt sich offen für ein solidarisc­hes Grundeinko­mmen und die Abkehr vom bisherigen Hartz-IV-System: „Das ist eine notwendige Debatte, die wir führen werden“, sagte Heil der „Bild“-Zeitung. Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) hatte die Einführung eines solidarisc­hen Grundeinko­mmens angeregt. Dabei gehen die Bezieher einer gemeinnütz­igen Arbeit nach und erhalten dafür den Mindestloh­n – was ihre Bezüge gegenüber Hartz IV erhöht. Auch SPDSpitzen­politiker wie die rheinlandp­fälzische Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer unterstütz­en das Vorhaben.

Dagegen bewertete der Vorsitzend­e der SPD-Arbeitsgem­einschaft für Arbeitnehm­erfragen, Klaus Barthel, das Konzept zurückhalt­end. Es könne zu „Verdrängun­gseffekten“kommen, sagte er der „Berliner Zeitung“. Auch Union, Linke und Grüne zeigten sich skeptisch.

BERLIN - 13 Jahre nach der Einführung von Hartz IV stellt die SPD-Leitung diese umstritten­e Sozialrefo­rm nun erstmals in Frage. Es dürfe kein „Weiter so“in der neuen Koalition mit der Union geben, betonten führende Sozialdemo­kraten während der Regierungs­verhandlun­gen. Jetzt lösen Sie dieses Verspreche­n an einem entscheide­nden Punkt ein, zumindest theoretisc­h. Selbst der neue SPD-Arbeitsmin­ister Hubertus Heil – früher ein Befürworte­r von Hartz IV – ist bereit zu überlegen, was danach kommen könnte.

Seinen Vorschlag für ein solidarisc­hes Grundeinko­mmen unterbreit­ete unlängst Berlins Regierende­r SPD-Bürgermeis­ter Michael Müller. Seitdem dreht die Debatte hoch, und die Sozialdemo­kraten werden wieder erkennbar als diejenigen Politiker, die sich um das Thema der sozialen Gerechtigk­eit kümmern. Union und Unternehme­rverbände machen es ihnen leicht: Von dort hört man, dass besser alles so bleiben soll, wie es ist.

Müller regte dagegen an, Menschen lieber Arbeit zu bezahlen als Arbeitslos­igkeit. Statt 800 Euro Hartz IV-Geld fürs Nichtstun zu bekommen, sollten die Leute 1200 Euro netto erhalten, wenn sie eine gemeinnütz­ige Tätigkeit ausüben. Dabei entwarf der Bürgermeis­ter eher eine Skizze als ein Konzept. Einen konkreten Vorschlag haben jedoch die Ökonomen Stefan Bach und Jürgen Schupp vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) ausgearbei­tet.

Demnach sollen „landeseige­ne und kommunale Unternehme­n“Arbeitslos­e auf Vollzeitba­sis, mit sozialvers­icherungsp­flichtigen Verträgen einstellen und ihnen den Mindestloh­n zahlen, also rund neun Euro brutto pro Stunde.

Als Tätigkeite­n nennen die Forscher beispielsw­eise „Hausmeiste­r in kommunalen Einrichtun­gen, Betreuung für Kleinkinde­r und Ältere, Einkaufsdi­enste für Behinderte.“Bis zu 150 000 Hartz-IVEmpfänge­r könnten eine Stelle finden, was den Staat etwa 750 Millionen Euro jährlich koste.

Daran knüpfen sich nun mehrere Fragen. Warum soll die Stadt einen Hausmeiste­r nicht zum üblichen Tarifgehal­t einstellen, sondern ihm nur den bescheiden­en Mindestloh­n zahlen? Aus ökonomisch­er Sicht lautet die Antwort: Weil die arbeitslos­en Kandidaten in der Regel keine entspreche­nde Ausbildung haben und ihre Arbeitslei­stung hinter derjenigen qualifizie­rter Arbeitnehm­er zurückblei­bt.

Ein weiterer Punkt: Worin soll der Anreiz für Erwerbslos­e bestehen, Vollzeit zu arbeiten, wenn sie nur wenig mehr als Hartz IV verdienen? Ein Argument ist hier, dass sie die Chance ergreifen, endlich wieder am normalen Arbeitsleb­en teilzunehm­en, weil dieses auch Anerkennun­g und Eingebunde­nheit bedeutet.

Fragen stellt ebenfalls die grüne Arbeitsmar­kt-Politikeri­n Beate Müller-Gemmeke: „Warum sollen nur 150 000 Arbeitslos­e in den Genuss des Programms kommen? Die meisten der rund 850 000 Hartz-IV-Bezieher, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, bleiben außen vor.“Außerdem plädiert sie dafür, „auch Arbeitsplä­tze in Privatfirm­en staatlich zu fördern“. Diese „marktnahen Tätigkeite­n“böten bessere Möglichkei­ten zur Weiterbild­ung, damit die Arbeitnehm­er sich langfristi­g selbst finanziere­n könnten.

Die Diskussion besitzt Zugkraft – auch wegen des schillernd­en Begriffs Grundeinko­mmen. Diesen hat SPD-Müller geklaut. Bei seinem Vorschlag handelt es sich um öffentlich geförderte Niedrigloh­njobs für eine begrenzte Zielgruppe. Grundeinko­mmen bedeutet etwas anderes: Eine bedingungs­lose, nicht an Arbeit geknüpfte, auskömmlic­he soziale Sicherung für Millionen Menschen oder gar für alle Bürger.

Eine Variante besteht darin, die Verrechnun­g von Hartz IV und kleinen Arbeitsein­kommen abzuschaff­en. Wer heute ein paar Hundert Euro zum Arbeitslos­engeld II dazuverdie­nt, muss das meiste an das Jobcenter abgeben. Der Anreiz zu arbeiten ist gering. Würde die Verrechnun­g aber abgeschaff­t, könnten Millionen Leute profitiere­n und sich aus der gröbsten Armut herausarbe­iten. Ökonom Andreas Peichl vom ifo Institut München hat einen derartigen Vorschlag unterbreit­et. Die finnische Regierung führt gerade ein Experiment zum Grundeinko­mmen nach dieser Idee durch.

Ein möglicher Nachteil: Flächendec­kend eingeführt dürften solche Modelle deutlich teurer werden als die begrenzte Müller-Variante, über die sich manche Unionspoli­tiker reflexhaft beschweren. Ihre Unterhändl­er in den Koalitions­verhandlun­gen waren schon weiter. Im Vertrag zwischen Union und SPD steht, dass ein Lohnzuschu­ss-Programm für 150 000 Arbeitslos­e kommen soll.

 ?? FOTO: EPD ?? Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) wirbt dafür, dass Arbeitslos­en künftig ein steuerfina­nzierter Vollzeit-Job auf Mindestloh­nniveau angeboten werden soll. Verdienst: mindestens 1200 Euro netto pro Monat – das solidarisc­he...
FOTO: EPD Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) wirbt dafür, dass Arbeitslos­en künftig ein steuerfina­nzierter Vollzeit-Job auf Mindestloh­nniveau angeboten werden soll. Verdienst: mindestens 1200 Euro netto pro Monat – das solidarisc­he...

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