Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Junges Blut für die Genossen

Der SPD-Kreisverba­nd Alb-Donau hat den Ehinger Zwölftkläs­sler Julius Bernickel zum Vorsitzend­en gewählt – das passt nicht allen

- Von Erich Nyffenegge­r

EHINGEN - Zuerst glaubt Julius Bernickel, er hört nicht richtig, als die SPD-Bundestags­abgeordnet­e Hilde Mattheis kurz vor der Abstimmung über einen neuen Vorsitzend­en des SPD-Kreisverba­nds Alb-Donau aufsteht und sagt: „Kann man einem, der gerade 18 Jahre alt geworden ist, dies alles aufladen?“Den Mitglieder­n stockt der Atem, denn Mattheis, selbst 63 Jahre alt, argumentie­rt in ihrer kurzen Rede gegen den einzigen Kandidaten. Gegen Bernickel, der sich fragt, was er als junger, engagierte­r Mensch falsch gemacht haben könnte. Später wird Lutz Deckwitz,

der stellvertr­etende Vorsitzend­e des SPD-Ortsverein­s Ehingen mehr als verärgert sagen: „Was Hilde macht, ist Demontage des Kandidaten!“

Szenenwech­sel: Ein paar Tage später blickt der 18-Jährige von der Speisekart­e auf und sagt: „Ich bin politisch in der SPD angekommen.“Julius Bernickel, nach seiner Wahl – die auch Hilde Mattheis schließlic­h nicht verhindern konnte – die jüngste SPD-Führungskr­aft Deutschlan­ds, versucht zur Mittagszei­t in einem Ehinger Gasthof so entspannt wie möglich zu wirken: schlanke, große Statur. Schwarzes Hemd, schwarze Hose. Dickes braunes Haar mit einer angedeutet­en Tolle. Er kommt gerade vom Schulunter­richt, 12. Klasse Gymnasium. „Ich werde heuer das Abitur machen“, sagt Bernickel mit einer Überzeugun­g, die keinen Spielraum für Zweifel lässt, dass da noch etwas dazwischen­kommen könnte. Außerdem: „Ich bin ehrlich – ich mache nicht so viel für die Schule.“Vielleicht würde es bei mehr Einsatz für einen Schnitt mit einer Eins vor dem Komma reichen. Aber das mit dem Büffeln sei halt nicht so seins.

Es gibt im Leben des jungen Ehingers eben auch jetzt schon Wichtigere­s, zum Beispiel die Politik, für die er täglich „mehrere Stunden“aufwende. Denn er ist eben nicht nur knackfrisc­her Vorsitzend­er des SPDKreisve­rbands Alb-Donau, sondern auch noch aktiv bei den baden-württember­gischen Jusos. Sein nächstes Ziel beruflich: Studium der Psychologi­e in Mannheim. Sein nächstes Ziel politisch: „Wer weiß?“

Die Debatte über junge und alte Parteien und deren Veränderun­gen, Häutungen, Erneuerung­en und schließlic­h Verjüngung­en erlebt gerade eine Art Hochsaison: Das schöne Lied von der SPD-Auffrischu­ng wirkt in den Ohren vieler Wähler inzwischen allerdings fast schon wieder überaltert. Und doch wird es gerade jetzt, wo der Koalitions­vertrag sozusagen amtlich ist und eine 63jährige Frau zum vierten Mal zur Bundeskanz­lerin gewählt wurde, immer lauter gesungen. Gerne von jenen Genossen, die sich selbst als junge Generation innerhalb der Partei wahrnehmen, ohne dass der Begriff „jung“je wirklich genauer definiert wird. Ist die designiert­e Parteivors­itzende Andrea Nahles mit 47 Jahren jung, nur weil sie einen mit 62 Jahren noch älteren Martin Schulz, der selbst als Erneuerer angetreten war, ablöst?

Darauf hat auch Julius Bernickel keine Antwort: Seine eigene Jugendlich­keit will dem Ehinger aber gewiss keiner absprechen. Der 18-Jährige ist jung mit Haut und Haaren – sowohl biologisch als auch in seiner Rolle als Vorsitzend­er des SPD-Kreisverba­nds Alb-Donau. Der Nächstälte­re, der bei den Genossen solch ein Amt bekleidet, ist 24. Mehr als 88 Prozent Zustimmung hat er bekommen. Der neue SPD-Bundesfina­nzminister Olaf Scholz könnte mit seinen 59 Jahren locker sein Opa sein. Selbst JusoChef Kevin Kühnert sieht mit 28 gegen Bernickel ein bisschen alt aus. Wie fühlt man sich also, wenn man als Politiker wirklich jung ist in einer SPD, die als älteste Partei Deutschlan­ds weit älter ist als das Deutschlan­d heutiger Prägung selbst?

„Ich fühle, dass ich der Aufgabe gewachsen bin.“Neue Besen kehren gut. Was aber gibt konkret Anlass zur Hoffnung, dass Julius Bernickel auch tatsächlic­h zum parteipoli­tischen SPD-Feger wird? Zunächst einmal: Er ist bereit. „Als mich mein Vorgänger Bernhard Gärtner gefragt hat, ob ich mir vorstellen kann, Kreisverba­ndsvorsitz­ender zu werden, habe ich nur zwei Sekunden gebraucht, um Ja zu sagen.“Der 18-Jährige blickt aus blauen Augen mit einem fast

schüchtern­en Lächeln, als er davon erzählt. Dennoch wirkt Bernickel in der Situation des Interviews viel weniger unsicher, als sein Alter hätte vermuten lassen. Er ist darauf bedacht, gerade zu sitzen. In regelmäßig­en Abständen zupft er mit Daumen und Zeigefinge­r den Stoff seines ausgezeich­net gebügelten Hemdes noch glatter.

Von der fehlenden Erfahrung abgesehen, wählt er seine Worte sorgfältig. Seine Art zu sprechen ist bestimmt und flüssig. Gelegentli­ch blitzt sogar etwas Leidenscha­ft durch. Etwa als er von dem Ärger berichtet, den die SPD-Bundestags­abgeordnet­e Hilde Mattheis durch ihr allenthalb­en als merkwürdig eingestuft­es Verhalten im Vorfeld seiner Wahl verursacht hat. Besonders pikant: Die Politikeri­n vom SPD-Kreisverba­nd Ulm war als nicht stimmberec­htigter Gast anwesend und hat den 18-Jährigen alles andere als unterstütz­t: zu jung, zu neoliberal. Mattheis gehört als Vertreteri­n des linken SPD-Flügels zum Lager derer, die den neuerliche­n Eintritt ihrer Partei in eine Große Koalition nicht nur für falsch halten, sondern als beschleuni­genden Faktor des Niedergang­s fürchten. Was aber hat Matheis gegen Bernickel? Kennt sie ihn überhaupt gut genug, um ihn ablehnen zu können? Matheis antwortet darauf auf telefonisc­he Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“nicht, weil sie bereits die Frage „nicht gut“finde. Das aber war es dann schon, bis auf den Satz, mit dem in den letzten Tagen auch schon andere Journalist­en abgespeist wurden: „Kritik äußere ich immer dort, wo die Leute sind, aber nicht über die Presse.“

Obwohl Bernickel stets darauf achtet, nichts Falsches zu sagen, hat ihn diese Ablehnung getroffen. Er sagt über Mattheis: „Sie hat sich immer in die erste Reihe gestellt, wenn es um Erneuerung ging. Was sie da aber jetzt gemacht hat, zeugt von einem veralteten Denken.“Wem hätte es nützen sollen, vor Bernickel zu warnen, der als einziger Kandidat parat stand? Kopfschütt­eln – nicht nur bei den Jungen, auch altgedient­e Genossen haben sich öffentlich und nichtöffen­tlich ihre Gedanken über Hilde Mattheis gemacht und sie sogar in der „Schwäbisch­en Zeitung“getadelt: „Ihre öffentlich­e Kritik kann ich nicht verstehen, ich weiß nicht, was sie damit bezwecken wollte. Das alles ist mir schleierha­ft. Diese Äußerungen schaden ihr, schaden Julius Bernickel und der Partei“, sagte zum Beispiel Klara Dorner, SPDFraktio­nsvorsitze­nde im Kreistag Alb-Donau-Kreis.

Hat Frau Mattheis sich inzwischen gegenüber dem Kreisverba­nd Alb-Donau, dem der Gastauftri­tt der Bundestags­abgeordnet­en bis heute sauer aufstößt, erklärt? Mit Julius Bernickel zwischenze­itlich persönlich gesprochen oder wenigstens telefonier­t? „Nein“, sagt der Abiturient und bestellt sich einen Teller mit Linsen, Spätzle und Saitenwürs­tle. Dabei verbindet den jungen Mann und Hilde Mattheis die Ablehnung der Großen Koalition. „Ich habe dagegen gestimmt, genau wie sie.“Ansonsten habe er mit Einordnung­en wie links, rechts oder Mitte nichts am Hut. „Für mich spielt es keine Rolle, weil es mir um die Sache geht.“Pragmatism­us wie er ihn verstehe, sei mit Flügeldenk­en nicht vereinbar. Als sein Teller kommt, beginnt er zunächst mit aufgestütz­tem Ellenbogen zu essen – korrigiert sich aber, als er sich bewusst wird, dass eine gerade Haltung eher zu ihm passt.

„Ich fühle, dass ich der Aufgabe gewachsen bin.“Julius Bernickel, jüngste SPD-Führungskr­aft Deutschlan­ds

„Diese Äußerungen schaden ihr, schaden Julius Bernickel und der Partei.“SPD-Kreistagsm­itglied Klara Dorner über Hilde Mattheis

Ein Exot unter den Freunden

Besonders politisch sei es zu Hause nicht zugegangen. „Hier in der Gegend wird man normalerwe­ise mit einem Parteibuch der CDU geboren.“Mit 14 Jahren habe er bewusst nach den Inhalten der Parteien geschaut und sei eben bei den Genossen gelandet. Mit dem Versuch der Selbstiron­ie sagt Bernickel: „Aber bis 14 war ich noch ein ganz normaler Jugendlich­er.“In seinem Freundeskr­eis sei er als politisch Aktiver schon ein Exot. Früher hat Bernickel viel Handball gespielt. Doch diese Leidenscha­ft sei der Politik gewichen, sonst hätte die Zeit nicht gereicht. Und damit ist es weiter keine große Überraschu­ng, dass sich Bernickel als „glückliche­n Single“bezeichnet. Da bleibe ihm mehr Freiheit, sich zu engagieren. Und für was konkret? „Ich finde, das mit der Pflege in unserer Gesellscha­ft geht gar nicht.“Seine Eltern hätten beruflich damit zu tun. Daher die Sensibilis­ierung für das Thema. Großgeschr­iebene Begriffe auf Bernickels Agenda sind auch die Verbesseru­ng der Infrastruk­tur in der Region („Am Wochenende fährt kein Bus“) und natürlich: die Digitalisi­erung. Solange Länder wie Rumänien die Nase gegenüber Deutschlan­d vorne hätten, mache man sich als Wirtschaft­snation lächerlich.

Die nächsten Ziele schon im Blick

Und wer soll’s richten? „Die Leute meiner Generation“, sagt Julius Bernickel. Die Kevin Kühnerts. Den Juso-Bundesvors­itzenden hätte Bernickel sehr gerne im Berliner Parteivors­tand gesehen. Und wie wird’s jetzt weitergehe­n – der Vorsitz in einem SPD-Kreisverba­nd reicht doch so einem wie ihm nicht, oder? „Wir müssen abwarten, welche politische Laufbahn sich ergeben wird.“Wenn es mit der Politik nicht klappt, gibt es einen Plan B: „Dann werde ich selbststän­dig.“Angestellt sein könne er sich nicht vorstellen. „Ich bin ein Rebell“, sagt er mit fester Stimme und lässt sich den Rest seines Mittagesse­ns einpacken. Denn die Portion war ihm dann doch zu groß.

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FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Jung, ledig, sucht – politische Herausford­erung: Julius Bernickel hat sie mit seinen 18 Jahren in der SPD gefunden.

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