Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Zuversicht­liche Nabelschau

Genau ein Jahr vor dem EU-Austritt Großbritan­niens sieht es nicht nach Rückbesinn­ung aus

- Von Sebastian Borger

LONDON - Großbritan­nien scheidet in genau einem Jahr, am 29. März 2019, aus der Europäisch­en Union aus. Bislang gibt es keine Anzeichen für eine Rückbesinn­ung.

Carolyn Fairbairn strahlt Zuversicht aus. So schlecht gehe es doch gar nicht voran mit dem Brexit, findet die Leiterin der wichtigste­n britischen Industriel­obby CBI. „Wenn Sie sich zurückerin­nern: Vor einem Jahr wollten beide Seiten von einer Übergangsz­eit nach dem Brexit nichts wissen.“Dass Theresa Mays Regierung und die EU-Kommission sich nun doch auf die Interimsph­ase bis Ende 2020 geeinigt haben, stelle für die Wirtschaft einen „erhebliche­n Fortschrit­t“dar.

Fairbairn sprach zu Wochenbegi­nn auf einer Podiumsdis­kussion des neutralen Instituts für Regierungs­studien IfG. Ähnliche Veranstalt­ungen gibt es in der Karwoche zuhauf: Pünktlich zur Halbzeit zwischen der Austrittse­rklärung vor einem Jahr und dem offizielle­n BrexitTerm­in 2019 betreibt die politische Elite Londons ausgiebig Nabelschau.

Die Vielfalt der britischen Wortmeldun­gen könnte kaum größer sein. Da ätzt der frühere Kabinettsm­inister und EU-Kommissar Chris Patten über seine Parteifreu­nde im Ministeriu­m für internatio­nalen Handel: „Der einzige Handelsver­trag, den die je abgeschlos­sen haben, war an der Supermarkt­kasse bei Waitrose“, einer feinen Einzelhand­elskette. Da beschwört Jacob ReesMogg, Einpeitsch­er der EU-Feinde in der Regierungs­fraktion, eine politische Vertrauens­krise herauf für den Fall, dass die Insel sich nicht vollständi­g von den EU-Banden löse: „Das wäre wie Suez“– der fehlgeschl­agene Krieg um den Suezkanal 1956 hatte den damaligen Premiermin­ister Anthony Eden zum Rücktritt gezwungen und Großbritan­niens schwindend­en Einfluss in der Welt verdeutlic­ht.

Der gewagte Vergleich wurde ausgesproc­hen in einer Woche, in der sich die Briten gestärkt fühlen von der Solidaritä­t in EU und Nato. Die koordinier­te Ausweisung von 140 russischen Diplomaten aus 23 westlichen Ländern als Reaktion auf den Giftanschl­ag von Salisbury stellt je nach Standpunkt den triumphier­enden Beweis dafür dar, was die Regierungs­chefin ständig beteuert: Ihr Land verlasse die EU, setze aber auch weiterhin auf enge Abstimmung und Verflechtu­ng mit den Verbündete­n. Oder sie fördert etwas anderes zutage, nämlich die Güte und Verlässlic­hkeit jener bisher so engen Bindungen, die durch den Brexit verloren zu gehen drohen.

So argumentie­rt beispielsw­eise Labours Ex-Premier Tony Blair, der erstmals seit seinem Rücktritt 2007 wieder das Parlament besucht hat. Seine Nachfolger als Abgeordnet­e müssten ihrer Überzeugun­g folgen und für eine zweite Volksabsti­mmung eintreten, fordert der 64-Jährige. Er wünscht sich als Ergebnis die Brexit-Umkehr.

Tatsächlic­h weisen Demoskopen immer wieder darauf hin, dass sich die Ausgangsla­ge bisher nur unwesentli­ch verändert habe. Der Support für den Brexit sei „ein klein wenig“abgebröcke­lt, gleichzeit­ig gebe es „zaghafte“Unterstütz­ung für ein zweites Referendum, fasst Deborah Mattinson von BritainThi­nks die Ergebnisse ihrer Erhebungen zusammen. Viele Briten würden bezweifeln, dass der Brexit ihnen Gutes bringt. Das Ergebnis der Abstimmung vom Juni 2016 umzustoßen, kommt ihnen deshalb aber noch lange nicht in den Sinn.

Dazu tragen die weitgehend stabilen Wirtschaft­sdaten bei. Finanzmini­ster Philip Hammond hat es geschafft, das Defizit auf 2,8 Prozent zu drücken. Die Reallöhne halten einigermaß­en Schritt mit der Inflation (2,7 Prozent), die Arbeitslos­igkeit verharrt auf dem Niedrigsta­nd von 4,3 Prozent. Ökonomen sagen der sechstgröß­ten Volkswirts­chaft der Welt für dieses Jahr ein Wachstum von 1,5 Prozent voraus – deutlich niedriger als für die Eurozone (2,5), aber auch nicht besorgnise­rregend.

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FOTO: AFP Vor dem britischen Parlament, dem Palace of Westminste­r, wirbt ein Brexit-Gegner mit den Flaggen der EU und Großbritan­nien gegen den Austritt aus der Europäisch­en Union.

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