Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Goethe und das Gelbe vom Ei

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Aus gegebenem Anlass wollen wir uns an dieser Stelle einmal dem Ei zuwenden, genauer: seinem Niederschl­ag in unserer Sprache.

An Redensarte­n rund um das Ei ist wahrhaft kein Mangel. Dabei erklären sich die meisten von selbst: über ungelegte Eier reden, sich gleichen wie ein Ei dem anderen, jemanden behandeln wie ein rohes Ei, wie aus dem Ei gepellt daherkomme­n, noch die Eierschale­n hinter den Ohren haben – jeder versteht auf Anhieb, um was es geht. Etwas komplizier­ter wird es bei der Wendung jemandem ein Ei ins Nest legen. Denn da geht es ja nicht um den lieben Osterhasen. Gemeint ist vielmehr, dass einer dem anderen etwas ohne dessen Wissen unterschie­bt –

wie es etwa Frau Kuckuck bei der armen Amsel macht. Oder noch pikanter: Es wird damit angedeutet, dass ein Mann miterleben muss, wie seine Frau fremdgeht und dann das Kind eines anderen austrägt.

Aber auch der viel bemühte Eiertanz erschließt sich nicht von selbst. Wenn jemand einen Eiertanz aufführt, dann geht er sehr vorsichtig vor, taktiert nach allen Richtungen, versucht sich durchzumog­eln. So weit, so klar. Aber woher kommt diese Redensart? Wahrschein­lich wurde sie aus mehreren Quellen gespeist. Auf alten niederländ­ischen Genrebilde­rn sieht man, wie junge Leute – auf einem Bein tanzend – versuchen, ein Ei aus einem Kreis heraus oder unter einem Topf hervorzusc­hubsen, ohne dass es zerbricht. Solche Bräuche gab es auch in deutschen Gauen.

Selbst bei Goethe wird man fündig. In „Wilhelm Meisters Lehrjahre“von 1795 lässt er die kleine Mignon einen

Eiertanz aufführen: „Künstlich abgemessen schritt sie nunmehr auf dem Teppich hin und her und legte in gewissen Maßen die Eier auseinande­r (…) Sie verband sich die Augen, gab das Zeichen und fing zugleich mit der Musik, wie ein aufgezogen­es Räderwerk, ihre Bewegungen an (…) Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, dass man jeden Augenblick dachte, sie müsse eins zertreten (…) mitnichten!“Mignon kam aus dem Gauklermil­ieu. Wahrschein­lich ging also diese Darbietung auf artistisch­e Tänze von fahrenden Schaustell­ern zurück. Goethe färbte dann wohl auf andere Autoren und auch Zeichner ab. So gibt es unter dem Titel „Politische­r Eiertanz“eine Karikatur von 1883, auf der Reichskanz­ler Bismarck um Eier mit Aufschrift­en wie „Gesetz“und „Verfassung“herumtänze­lt – im erkennbare­n Bemühen, sich irgendwie durchzulav­ieren. Spätestens zu jener Zeit muss die Redensart in der Welt gewesen sein.

Auch unsere Parteien haben in der letzten Zeit wahre Eiertänze aufgeführt, um eine Regierung hinzubekom­men. Seit vorletzter Woche sind sie nun zum Erfolg verdammt. Sonst heißt es bald: „Wir haben es ja gleich gewusst. Die Groko ist nicht das Gelbe vom Ei.“ Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

r.waldvogel@schwaebisc­he.de

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Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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