Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ich packe meinen Kader
Beim System scheint Löw noch in der Findungsphase, sein WM-Kader steht derweil fast
BERLIN - Wenn es sich jemand erlauben konnte, dann sicherlich Toni Kroos. Als einer von wenigen Leistungsträgern hatte der Mittelfeldlenker von Real Madrid auch beim zweiten Härtetest des DFB innerhalb weniger Tagen beim 0:1 (0:1) gegen Brasilien auf dem Platz gestanden – zusammen mit einer ganzen Reihe Helden aus der zweiten Reihe. Doch was der 28-Jährige von eben jenen erlebte, schien dem sonst so ruhigen Mecklenburger so gar nicht geschmeckt zu haben. Man habe deutlich gesehen, „dass wir doch nicht so gut sind, wie uns immer eingeredet wird oder wie vielleicht auch einige von uns denken“, erklärte Kroos zweieinhalb Monate vor dem ersten WM-Gruppenspiel am 17. Juni in Moskau gegen Mexiko. Woran das gelegen habe? Vor allem an den Nachrückern: „Ich habe von allen mehr erwartet. Aber wenn man die Möglichkeit hat in so einem Spiel, dann kann man hier und da schon eine andere Körpersprache erwarten“, so die Führungskraft. Leroy Sané, Ilkay Gündogan oder auch Kevin Trapp – überzeugen konnte beim Freundschaftsspiel keiner der Startelf-Neulinge. „Ich finde, dass der Trainer vielen die Möglichkeit gegeben hat, sich zu zeigen und dass das eben heute eben definitiv nicht gelungen ist“, so der 82-fache Nationalspieler. Joachim Löw selbst nahm den Auftritt zwar auch nicht gerade erfreut, doch etwas gelassener zur Kenntnis: Sorgen? „Nein“, sagte Löw, „mir bereitet eigentlich kaum was große Sorgen, weil ich weiß, dass die Mannschaft zu ganz anderem fähig ist.“Also: seine erste Mannschaft, in der höchstens zwei Positionen vakant sind.
Doch waren die Partien gegen Spanien (1:1) und Brasilien für Löw generell ein großes Festival des Ausprobierens. Taktik und vor allem Akteure, ein einziges Schaulaufen und Aussieben für die WM. „26 waren jetzt nominiert, da kommen noch drei, vier Spieler dazu. Daraus wird sich der Kader ergeben“, sagt Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff. Und sind die Namen des Kaders, der am 15. Mai im Dortmunder Fußball-Museum benannt wird, gar nicht mehr so geheim.
Die Unantastbaren:
Da gibt es bereits einige. Löws Gerüst steht – siehe das Spiel gegen Spanien. Acht bis neun Plätze in Löws erster Elf scheinen an Joshua Kimmich, Jérôme Boateng, Mats Hummels, Jonas Hector, Toni Kroos, Sami Khedira, Mesut Özil (?), Thomas Müller und Timo Werner vergeben. Offen: die Torhüterposition, weil Kapitän Manuel Neuer noch um seine Rückkehr kämpft. Allerdings scheint es auch dieses Jahr wieder zu passen. Mit Lauftraining hat der Welttorhüter bereits begonnen. Sollte er auch nur halbwegs ohne Krücken stehen können, dürfte er seinen Platz sicher haben. Im Zweifel steht Marc-André ter Stegen als zuverlässiger Ersatz bereit. Linksaußen fällt die Entscheidung zwischen Julian Draxler, Marco Reus und Leroy Sané. Auch Ilkay Gündogan wird sicher im Kader sein und kratzt an Özils Status.
Mit einem Bein bereits in Russland:
Leon Goretzka, Marvin Plattenhardt (für den als Ersatzlinksverteidiger schlicht die Alternativen fehlen) und Antonio Rüdiger dürfen sich ihres WM-Tickets fast sicher sein. Die Torhüter Bernd Leno und Kevin Trapp konkurrieren als Nummer 3, sollte Neuer dabei sein. Vor allem Trapp sammelte jedoch gegen Brasilien mit seinem Patzer beim Gegentor nicht gerade Pluspunkte. Sein Abend drohte derart schwarz zu werden, dass sich Löw entschied, auf das geplante Wechselspiel mit dem Konkurrenten Bernd Leno zu verzichten: Es hätte wie eine Strafe gewirkt, Trapp rauszunehmen. „Klar hat er mit dem Fuß ein paar Bälle zum Gegner gespielt“, sagte Löw nachher beschwichtigend, „aber man hat ihn da hinten auch mit dem Ball alleine gelassen.“Emre Can, Matthias Ginter, Niklas Süle kämpfen noch um das Ticket.
Müssen zittern:
Es bleibt also eine Chance für Mario Götze, eine deutlich kleinere für André Schürrle. Auch für Julian Brandt, Sebastian Rudy oder Lars Stindl wird es eng. Derzeit außen vor sind beispielsweise die Confed-Cup-Sieger Kerem Demirbay, Benjamin Henrichs und Amin Younes – aber auch die Weltmeister Benedikt Höwedes und Shkodran Mustafi. Und dann wäre da noch das viel diskutierte Duell um einen Platz im Sturm zwischen Sandro Wagner und Mario Gomez. Einer wird es wohl auf jeden Fall nach Russland schaffen – überzeugen konnte im Test gegen Brasilien jedoch keiner. Letzterer war hinterher eher genervt über die Dauerdiskussion. Angesprochen, was sein Startelfeinsatz für ihn bedeutete, antwortete Gomez: „Ich will auch gar nicht schlauer sein, denn der Bundestrainer wird nicht mehr heute Abend nominieren. Ich habe heute etwas angeboten und werde das auch in Zukunft machen, und dann wird man im Mai sehen.“
Dennoch hat Joachim Löw bereits einiges gesehen, nicht nur, was seine Akteure angeht. Der Ausgang spielte eher eine untergeordnete Rolle. Löw ist im Moment eher auf der Suche nach Taktikvariationen und Alternativen. Denn auch wenn die Spiele gegen Spanien oder Brasilien Klassiker sind, waren sie hauptsächlich das, was sie auch dem Namen nach waren: Tests. „Wenn es nur ums Gewinnen gegangen wäre, hätte der Trainer anders aufgestellt“, meinte dann auch Gomez. Ob er andernfalls gestartet hätte, ist ebenso zweifelhaft. Löw wird es einerlei sein, wichtig ist für ihn nur eines – die WM.