Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Eine Familie am Rand der Verzweiflung
Digdem Akkus aus Friedrichshafen ist blind, zuckerkrank, Dialyse-Patientin und Mutter – 2017 wurde ihr die Haushaltshilfe gestrichen
FRIEDRICHSHAFEN - Die fünfköpfige Familie Akkus aus Friedrichshafen ist in großer Not: Die Mutter ist blind, hat Diabetes und kaputte Nieren. Ohne Hilfe kommt sie nicht klar. Das Landratsamt hat aber vor acht Monaten das Geld dafür gestrichen.
Mohammet Ali Akkus sitzt auf dem Sofa und ist sehr still. „Mein Mann hat schwere Depressionen und Schlafstörungen“, sagt seine Frau Digdem. Dabei sind Ali Mohammets Nächte ohnehin kurz – und das nicht nur, weil er im Schichtbetrieb arbeitet. Sondern auch, weil er sich um seine Frau kümmern muss. Denn Digdem Akkus ist seit Oktober 2014 vollständig erblindet. Zudem leidet sie seit ihrem 13. Lebensjahr an Diabetes. Und da ist dann noch ihre Niereninsuffizienz. Digdem Akkus muss regelmäßig zur Dialyse ins Krankenhaus. Während diesen mehrstündigen Behandlungen kann sie nicht bei ihren drei Kindern sein. Ihre beiden 14und 15-jährigen Jungs sind weniger das Problem, aber ihre quirlige Tochter ist erst vier Jahre alt und kann nicht ohne Aufsicht sein. Inzwischen verlegt Digdem Akkus ihre Dialysen in die Abendstunden, wenn ihr Mann zu Hause ist, sofern er keine Spätschicht hat. Ohnehin kann sich Digdem Akkus um ihre Kleinste nicht so kümmern, wie sie es wollte, denn sie braucht ja selbst Hilfe, um ohne Augenlicht in der Wohnung zurechtzukommen.
Seit 1. August 2017 sind dabei verstärkt ihre Söhne gefordert. Zu diesem Zeitpunkt wurde ihr nämlich vom Landratsamt Bodenseekreis die Kostenübernahme für eine Haushaltshilfe gestrichen, die ihr am 28. Januar 2015 bewilligt worden war – also kurz nachdem Digdem Akkus erblindet war und sich um ihre damals anderthalb Jahre alte Tochter zu kümmern hatte.
1800 Euro pro Monat für Hilfe
Seit acht Monaten steht die Familie nun vor Problemen, die sie nicht mehr bewältigen kann. Die Haushaltshilfe stand von Montag bis Freitag acht Stunden pro Tag zur Verfügung und fiel nun plötzlich weg. Das Landratsamt begründete die Einstellung der Kostenübernahme mit der Höhe des Einkommens ihres Mannes, der nach einer fast einjährigen Krankheitsphase seit Mai 2017 wieder arbeitet. Zudem sei da das Pflegegeld ihrer Pflegekasse, das Digdem Akkus in Anspruch nehme. Allerdings bezieht Digdem Akkus von der Pflegekasse monatlich lediglich 545 Euro. Mohammet Ali konnte sich eine Zeit lang unbezahlt freinehmen, um sich um seine Familie zu kümmern. Überhaupt ist er dankbar, wie sehr seine Kollegen und sein Chef zu ihm halten.
Auch Digdem Akkus’ in Belgien lebende Schwester stand ihr bei, versuchte, die entstehende Lücke auszufüllen. Zudem hat das Ehepaar einen Kredit aufgenommen, um die Betreuung nun eben auf anderem Wege zu finanzieren. 1500 bis 1800 Euro pro Monat wendet das Ehepaar im Ganzen für Pflege und Hilfe auf. Die ungelernte Hilfskraft bekommt zwölf Euro in der Stunde. Die täglichen acht Stunden Betreuung von ehedem, damals durch geschulte Dorfhelferinnen, sind damit aber längst nicht abgedeckt. „Allein für meine Pflege brauchen wir 1100 Euro im Monat“, sagt Digdem Akkus. Sie braucht aber auch Begleitung bei ihren mehrstündigen Dialysebehandlungen, beim Einkaufen und anderen Alltäglichkeiten.
„Ich möchte, dass meine Kinder einfach Kinder sein können“, sagt Digdem Akkus. In ihrer Stimme liegen Schuldgefühle, denn ihre Söhne sind es, die sich um sie kümmern, wenn ihr Mann bei der Arbeit ist. Aus Verantwortungsgefühl schwänzen sie immer wieder die Schule. Ihre Noten haben sich verschlechtert. Digdem Akkus will diesen Zustand nicht mehr hinnehmen. Ihre Jungen verlieren ihre Freunde, weil sie für gemeinsame Unternehmungen keine Zeit haben. Auch sonst müssen die Kinder zurückstecken. Neue Schuhe oder Kleidung sind nicht drin. Für ihre kleine Tochter wünscht sich Digdem Akkus bessere Betreuung. „Uns wäre sehr geholfen, wenn ein Leihopa oder eine Leihoma sich ab und zu mit ihr beschäftigen“, sagt sie. Sorgen macht sie sich auch um den älteren ihrer beiden Jungen, der wegen seiner Lern- und Hörbehinderung besondere Förderung braucht. „Er trägt zu viel Verantwortung“, sagt seine Mutter.
Bewusstlos in der Wohnung
Was passieren kann, wenn Digdem Akkus allein ist, weiß ihr Mann nur zu gut. Mehrfach fand er sie in der Wohnung bewusstlos vor – wegen Unterzuckerung in der Folge ihrer Diabetes. Und im September 2017 brach sie sich den Fuß, als sie sich allein durchs Treppenhaus tastete, um vom Fahrdienst zur Dialyse gebracht zu werden. Wegen ihrer starken Osteoporose konnten die Ärzte ihren Fuß kaum wieder zusammenflicken. Digdem Akkus sieht in ihrem Unfall das Positive: „Mir wurde wegen dem gebrochenen Fuß von Oktober bis Dezember eine Haushaltshilfe genehmigt.“
Am 23. Februar trug das Ehepaar seine Sorgen im Rahmen eines Runden-Tisch-Gesprächs Vertretern aller Einrichtungen vor, die mit ihrem Fall betraut sind: Jugendamt, Eingliederungshilfe, Kranken- und Pflegekasse. Die Atmosphäre sei sehr verständnisvoll gewesen, sagt Digdem Akkus, aber die Situation befinde sich immer noch in der Schwebe. Nach wie vor steht die Familie also ohne Hilfe da. Digdem Akkus akzeptiert nicht mehr, dass ihre Söhne ihretwegen nicht zur Schule gehen. In der Folge ist die blinde Frau mit ihrer kleinen Tochter wieder oft allein in der Wohnung. Die Unfälle ließen nicht auf sich warten: Digdem Akkus hat sich am Herd verbrannt, ihre Tochter verbrühte sich mit heißem Wasser.
Inzwischen hat das Ehepaar Rechtsanwalt Maik Fodor eingeschaltet. Er wirft dem Landratsamt Fristversäumnis vor. Als maßgeblicher Behörde will er das Landratsamt per Klage dazu bringen, eine Entscheidung zu fällen. Die Entgegnung von Robert Schwarz, Pressesprecher des Landratsamts, legt nahe, dass das Amt hier noch Klärungsbedarf hat. „Wir stehen mit Familie Akkus in einem intensiven Kontakt, um die Hilfemöglichkeiten zu bestimmen“, so Schwarz. „Hier ist auch der genannte Rechtsanwalt eingebunden. Er könnte auch positiv darauf hinwirken, dass wir alle nötigen Unterlagen und Informationen erhalten, um die beantragte Entscheidung zu treffen.“
Vergangene Woche wurde Digdem Akkus von der Eingliederungshilfe des Landratsamts eine „Elternassistenz“zur Versorgung der Kinder zugesagt, für 20 Stunden in der Woche. Weil sie nur einen Anruf bekam, hat sie das nicht schriftlich. „Man hat mir gesagt, ich solle einen Voranschlag mit den Kosten einreichen.“Sich eine solche Assistenz zu organisieren, bleibt ihr also selbst überlassen. Ihre jetzige Hilfskraft wird die Aufgabe nicht übernehmen können, weil sie den Wohnort wechselt.