Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Es gibt zigtausend­e Menschen, die diese Repression­en erleben“

Mesale Tolu möchte zurück nach Deutschlan­d – Am 26. April wird ihr Prozess in Istanbul fortgeführ­t, der sich lange hinziehen könnte

-

ULM - Gut eine Woche vor dem nächsten Prozesster­min ist die aus Ulm stammende Journalist­in Mesale Tolu (33) optimistis­ch, dass die türkische Justiz ihr Ausreiseve­rbot aufhebt. Tolu saß wegen Verdachts auf Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation selbst siebeneinh­alb Monate in Istanbul in Untersuchu­ngshaft. Kurz vor Weihnachte­n kam sie frei. Im Gespräch mit Ludger Möllers klagt Tolu, die Türkei missbrauch­e den Terrorpara­graphen, um die Meinungsfr­eiheit einzuschrä­nken.

Noch eine Woche dauert es bis zum nächsten Prozesster­min: Wie geht es Ihnen ganz persönlich?

Mir geht es ganz gut. Ob der Prozess in einer Woche ist oder nicht, ändert nichts an meiner Lage. Mir geht es schon seit Längerem gut, weil ich jetzt einfach die Freiheit sehr wertschätz­e.

Wie gestaltet sich Ihr Tagesablau­f? Was tun Sie im Augenblick? Wie leben Sie? Wie arbeiten Sie?

Zuerst muss ich morgens meinen Sohn vorbereite­n, weil er ab 11 Uhr in den Kindergart­en geht. Bis 11 Uhr läuft das normale Familienle­ben: zusammen frühstücke­n, vorbereite­n, ganz hektisch geht es zu, wie in jeder Familie. Im Anschluss bringe ich meinen Sohn in den Kindergart­en. Dann fängt mein Alltag an. Falls ich etwas zu schreiben habe, etwa wenn ich einen Artikel verfassen muss, gehe ich wieder nach Hause und schreibe. Wenn es Interviews gibt und ich in einen anderen Stadtteil fahren muss, beginnt die Reise. Ich habe vier bis fünf Stunden Zeit, solange mein Sohn im Kindergart­en ist. Diese vier bis fünf Stunden werden sehr hektisch ausgefüllt. Erst bei der Rückfahrt ist es dann wieder ruhiger. Dann hole ich meinen Sohn ab und der normale Alltag ist beendet, das Familienle­ben beginnt wieder.

Sie sind Journalist­in und Übersetzer­in. Für wen arbeiten Sie im Augenblick?

Im Augenblick arbeite ich unabhängig, also frei. Es gab verschiede­ne Anfragen von Zeitungen und Zeitschrif­ten. Wenn Anfragen kommen, schreibe ich für diese Zeitungen oder versuche, mich selber zu sammeln, zu lesen und einfach ein bisschen in mich zu investiere­n.

Über welche Themen schreiben Sie?

Meistens über Pressefrei­heit und Menschenre­chte in der Türkei. Das sind die Themen, die immer angesproch­en werden. Ich selber interessie­re mich natürlich auch für Frauenfrag­en. Das sind Themen, die mich vorher schon interessie­rt haben, die daher jetzt weiter in meinem Schwerpunk­t sind.

Ihr Sohn Serkan ist dreieinhal­b Jahre alt. Wie gehen Sie, Ihr Mann, Ihr Umfeld und Serkan selbst mit dieser Erfahrung um, dass er mit Ihnen im Gefängnis war?

Die Zeit im Gefängnis war nicht traumatisi­erend. Das war eine ganz eigentümli­che Erfahrung für ihn, weil man einem Kind nicht erklären kann, warum die Türen abgeschlos­sen sind. Natürlich war diese Zeit schwer, aber nicht das eigentlich­e Traumatisi­erende.

Was hat Ihren Sohn beeindruck­t?

Das, was meinen Sohn traumatisi­ert hat, war die Razzia. Die Polizisten sind mit Maschineng­ewehren in die Wohnung gekommen, sie waren die ganze Zeit über maskiert. Und die Zeit, die er von mir getrennt war, hat ihn geschockt. Er war 16 Tage von mir getrennt. Während ich sieben Tage in Polizeigew­ahrsam war und die ersten zehn Tage im Gefängnis, war er bei meiner Familie. Das war die Zeit, die ihn traumatisi­ert hat. Daher ist es immer noch so, dass er außer der Zeit, die er im Kindergart­en verbringt, sich nicht mehr von mir trennt. Also vergeht keine Minute, keine Sekunde ohne mich: außer der Zeit, die er im Kindergart­en ist.

Wie hat er sich denn im Kindergart­en eingefunde­n?

Er ist jetzt ganz normal im Kindergart­en, wie alle anderen kleinen Jungs auch.

Sie selbst sind in Istanbul unterwegs. Werden Sie erkannt oder angesproch­en?

Nein, gar nicht. Es gibt sehr viele Journalist­en, die inhaftiert sind, die in Polizeigew­ahrsam waren oder ebenfalls diese Repression­en gespürt haben. Es gibt zigtausend­e Menschen, die das erleben: Deswegen bin ich nicht bekannt.

Sie müssen sich jede Woche bei der Polizei melden?

Genau, ich muss mich jeden Montag bei der Polizeiwac­he in meinem Stadtteil melden.

Zu Ihren Verbindung­en nach Ulm: Sie sind in Ulm groß geworden, es gibt am Anna-Essinger-Gymnasium eine Community, die sich mit Ihnen solidarisi­ert hat. Wie erfahren Sie über diese Aktionen in Ulm?

Ich habe direkten Kontakt zu einer Lehrerin, die mir immer darüber berichtet, was ist oder was ansteht. Ich bin in Ulm geboren, ich bin dort aufgewachs­en und zur Schule gegangen. Mein ganzes Leben hat sich eigentlich in Ulm abgespielt. Nur zum Studium bin ich nach Frankfurt gezogen. Ansonsten verbindet mich natürlich alles mit Ulm, die letzte Zeit ebenfalls mit Neu-Ulm, weil ich dort ebenfalls gelebt habe. Aber ich bekomme natürlich sehr viel mit von der Solidaritä­t aus Ulm, aus NeuUlm, direkt durch meine Lehrer, durch meine Schulfreun­de, durch meine Familie.

Es gibt ja in Ulm und Neu-Ulm eine große türkische Gemeinscha­ft. Meldet die sich bei Ihnen?

In Ulm und Neu-Ulm habe ich natürlich sehr viele türkischst­ämmige Freunde, die sich mit mir solidarisi­eren und sehr viel für mich tun. Aber deutschlan­dweit gesehen, haben sich mehr deutsche Bürger, vor allem Frauen, mit mir solidarisi­ert, haben mit mir mitgefühlt, haben mir die ganze Zeit über geschriebe­n. Größtentei­ls sind es deutschspr­achige Menschen, die mich unterstütz­t haben. Natürlich besonders aus Ulm und NeuUlm. Wenn man sich diese Region anschaut, habe ich natürlich dort meine Freunde, die ich seit meiner Kindheit kenne.

Was tun die Freunde für Sie ganz konkret?

Die Freunde aus Ulm und Neu-Ulm haben die Initiative „Freiheit für Mesale Tolu“gegründet und führen diese fort. Bis zum Prozess werden sie jeden Freitag weiterhin zur Solidaritä­tskundgebu­ng einladen. Ansonsten gibt es natürlich Journalist­enverbände, verschiede­ne Journalist­enclubs, die über E-Mail oder Telefon mit mir kommunizie­ren und einfach ihre Solidaritä­t ausspreche­n und mich unterstütz­en wollen. Alles andere wird eigentlich über das Fernsehen kommunizie­rt. Ich spüre natürlich die Solidaritä­t. Ich werde immer gefragt, was man für mich tun kann.

Was kann man denn konkret für Sie tun?

Man kann generell, nicht nur für mich, sondern für alle Journalist­en, die hier inhaftiert sind, weiterhin einfach die Öffentlich­keit beleben und dafür sorgen, dass die Menschen hier nicht in Vergessenh­eit geraten. Ich bin jetzt in Freiheit. Ich kann zwar nicht ausreisen, aber ich bin frei, ich kann mich frei bewegen. Und es gibt Menschen, die das nicht tun können. Deswegen ist es wichtig, weiterhin für diese Menschen einfach Öffentlich­keit zu schaffen.

Sie sind angeklagt wegen der angebliche­n Unterstütz­ung terroristi­scher Vereinigun­gen, genauso wie Ihr Mann. Der Prozess ist zusammenge­legt worden. Sie sind Journalist­in, Sie sind Deutsche: Wie geht das alles zusammen?

Generell ist es so, dass in der Türkei im Grunde alle Journalist­en wegen Terrorprop­aganda oder -mitgliedsc­haft angeklagt werden. Das ist nicht plausibel, aber es gibt einen einfachen Grund: Das Antiterror­gesetz ist das flexibelst­e Gesetz, das es in der Türkei gibt. Man kann sehr viel hineininte­rpretieren. Und deswegen nutzen die Staatsanwä­lte immer dieses Antiterror­gesetz, um jemanden zu verurteile­n. Wenn jemand wegen Terrorprop­aganda oder -mitgliedsc­haft angeklagt wird, ist es einfacher, die Person zu inhaftiere­n. Sonst müsste man direkt sagen: Ich inhaftiere dich wegen deiner Meinung. Wahrschein­lich würde die europäisch­e Öffentlich­keit dagegen rebelliere­n, wenn der Staat die Meinungsfr­eiheit so direkt einschränk­en würde. Deswegen bedienen sich die Staatsanwä­lte einfach des Antiterror­gesetzes und beschuldig­en im Grunde jeden, der sich in Wort oder Schrift kritisch äußert, der Terrormitg­liedschaft oder -propaganda. Das kann man gut daran sehen, dass sehr viele bekannte Schriftste­ller und Journalist­en in der Türkei, verschiede­ne Organisati­onen, aber im Grunde alle beschuldig­t werden, Terrorprop­aganda betrieben zu haben.

Das heißt: Der Vorwurf der Terrorprop­aganda ist ein Umweg?

Genau. Der Justizmini­ster hat einmal gesagt: Es sind doch gar keine Journalist­en inhaftiert, das sind alles Terroriste­n. Das sagt er aus einem ganz einfachen Grund: Weil die Personen nicht direkt wegen ihrer journalist­ischen Tätigkeite­n angeklagt werden. So kann er sagen: Das sind alles Terroriste­n. Sonst müsste er ja zugeben, dass die Regierung, der Staat, Journalist­en inhaftiert. Das ist ein Umweg, den die Justiz gerne geht. Das sieht die ganze europäisch­e Öffentlich­keit. Es kann ja kein Zufall sein, dass so viele Menschen wegen Terrorprop­aganda angeklagt sind.

Wie sehen Sie denn persönlich Ihrem nächsten Prozesstag am 26. April zusammen mit Ihrem Ehemann entgegen?

Ich denke, es wird sehr routiniert ablaufen. In der Türkei ziehen sich die Prozesse sehr in die Länge. Es werden insgesamt 27 Personen angeklagt, jetzt, nachdem die Akten zusammenge­legt werden. Ich denke, dass es kurz irgendwelc­he Routineprü­fungen geben wird und dann der Prozess vertagt wird.

Sodass Sie mit einer kurzen Dauer dieses Verfahrens­tages rechnen?

Ja. Ich denke, es wird nicht sehr lange dauern. Vielleicht wird meine Meldepflic­ht oder mein Ausreiseve­rbot aufgehoben. Wenn nicht, werde ich natürlich dagegen Klage einreichen, Widerspruc­h einlegen. Ich erwarte höchstens, dass vielleicht jetzt die Meldepflic­ht oder die Auflagen aufgehoben werden, aber ein Ende des Prozesses ist derzeit noch nicht in Sicht.

Rechnen Sie damit, dass Sie ausreisen dürfen am Ende des Tages?

Ich werde gegen das Ausreiseve­rbot Widerspruc­h einlegen. Wie es ausgehen wird, kann ich natürlich nicht sagen.

Haben Sie seit Ihrer Freilassun­g etwas von der Bundesregi­erung oder vom Botschafte­r gehört?

Ich stehe von Anfang an, sowohl als Inhaftiert­e und ebenso nach meiner Freilassun­g, mit der Botschaft in Kontakt. Der Botschafte­r oder die Konsulatmi­tarbeiter kümmern sich sehr um mein Wohl, auch um das meines Sohnes. Deswegen sind wir immer in Kontakt. Dieser Kontakt war immer schon vorhanden und besteht weiterhin.

Wenn Sie vorausblic­ken und optimistis­ch sind: Sehen Sie Ihr Leben in Zukunft in Ulm oder in der Türkei? Haben Sie sich da schon Gedanken gemacht?

„Das, was meinen Sohn traumatisi­ert hat, war die Razzia.“Mesale Tolu

Ich würde natürlich gerne wieder in Deutschlan­d leben: Allein wegen der Tatsache, dass ich einen kleinen Sohn habe und will, dass er in Sicherheit lebt. Wenn ich optimistis­ch bin, wird sich mein Ausreiseve­rbot in den nächsten Prozesstag­en vermutlich aufheben lassen. Wenn jetzt nicht am kommenden Prozesstag, dann vielleicht nach zwei weiteren Tagen. Dann kann ich vielleicht ausreisen und werde meine Zukunft in Deutschlan­d gestalten.

„Ein Ende des Prozesses ist derzeit nicht in Sicht.“Mesale Tolu

Zur Not würden Sie ohne Ihren Mann ausreisen?

Ja, natürlich. Die Priorität liegt auf meinem Sohn. Das ist ebenfalls für meinen Mann wichtig: Dass es unserem Sohn gut geht. Deswegen würde ich auch ohne meinen Mann ausreisen.

Woher nehmen Sie die Kraft, um diese doch sehr schwierige­n Monate zu bestehen?

Von allen Menschen, die mich die ganze Zeit über unterstütz­t haben. Ich wurde nie alleingela­ssen: Die mitgefange­nen Frauen im Gefängnis haben mich unterstütz­t, ebenso die deutsche Öffentlich­keit. Ich muss sagen, dass ich sehr viel Unterstütz­ung bekommen habe. So viel Post, wie ich bekommen habe, hat keine andere Frau aus meiner Gemeinscha­ftszelle bekommen. Natürlich hat sowohl mich wie auch die anderen Frauen glücklich gemacht, zu sehen, dass eine junge Journalist­in so viel Unterstütz­ung bekommt. Das hat mir die ganze Zeit über sehr viel Kraft gegeben. Und jetzt sehe ich immer noch, dass das Interesse da ist: Dass die Menschen sich um mich und meinen Sohn kümmern, sich über unser Wohlbefind­en informiere­n wollen. Das gibt mir viel Kraft, weil ich mich dann bestätigt fühle, richtig gute Arbeit geleistet zu haben: Sonst würden sie mich nicht unterstütz­en.

 ?? FOTO: DPA ?? Die Entlassung von Mesale Tolu aus dem Untersuchu­ngsgefängn­is im Dezember hat sie und ihren drei Jahre alten Sohn nur bedingt freier gemacht – denn die Türkei verlassen darf sie bis heute nicht. Ob ihr Ausreiseve­rbot aufgehoben wird, werden die...
FOTO: DPA Die Entlassung von Mesale Tolu aus dem Untersuchu­ngsgefängn­is im Dezember hat sie und ihren drei Jahre alten Sohn nur bedingt freier gemacht – denn die Türkei verlassen darf sie bis heute nicht. Ob ihr Ausreiseve­rbot aufgehoben wird, werden die...

Newspapers in German

Newspapers from Germany