Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Als die Protestbewegung Biberach erreichte
Am 22. April 1968 sorgten junge Leute bei einer Wahlkampfrede des Bundeskanzlers für einen Eklat – Einer der Anführer war Martin Heilig
BIBERACH - Die 68er-Bewegung verbinden viele mit den Studentenunruhen in deutschen Großstädten. Dabei begehrte auch in Baden-Württemberg die Jugend auf. Im April 1968 kam es in Biberach zu einem Ereignis, von dem „ein Funke ausging, der sich mit ständig steigender Potenz über das ganze Land ausgebreitet hat“, sagte der Historiker und Politologe Frank Raberg Anfang März beim Tag der Archive in Biberach. Er meinte damit die Proteste bei einer Wahlkampfveranstaltung des damaligen Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger (CDU). Einer der Protagonisten damals war der Biberacher Künstler Martin Heilig. Im Gespräch mit der SZ erinnert er sich an sein ’68 in der schwäbischen Provinz.
Es ist der späte Vormittag des 22. April 1968, als Martin Heilig auf dem Biberacher Marktplatz jenem Mann gegenübersteht, den er als Repräsentanten betrachtet für erlebtes Grauen in seiner Kindheit und die autoritäre, engstirnige Gesellschaft seiner Jugendjahre. Bundeskanzler Kiesinger hat sich zu einer Kundgebung im Vorfeld der anstehenden Landtagswahl angesagt. Tausende Biberacher säumen an diesem sonnigen Montagmorgen den Marktplatz, Fernsehkameras sind aufgebaut – alles scheint bereitet für einen herzlichen Empfang, wie ihn Kiesinger bereits zwei Jahre zuvor als Ehrengast des Biberacher Schützenfests erlebt hat.
Doch unter die Menge hat sich auch eine Gruppe junger Leute gemischt, die rot bemalte Holzkreuze und mehrere Transparente mit sich führen. „Schluss mit der christlichen Lüge der CDU“, „Biberach - Stimmvieh?“oder „33 - 45?“steht darauf zu lesen. Vorneweg Martin Heilig und Ekke Leupolz. Beide sind gebürtige Biberacher, beide um die 30, beide haben bereits studiert und sind mit einem Charisma ausgestattet, junge Leute für sich und ihre Ziele zu begeistern. „A.P.O.“(„Außerparlamentarische Opposition“) nennt sich die Gruppe, die die beiden jungen Männer mit Vollbart und im weißen Rollkragenpulli anführen.
Im Gegensatz zur großen APO in Berlin, schreibt sie sich in Biberach mit drei Punkten – ganz bewusst. „Wir wollten kein Abklatsch von APO-Ritualen in Berlin oder Frankfurt sein. Das war uns zuwider. Es ging nicht darum, einer globalen Revolte angehören zu wollen“, sagt Martin Heilig rückblickend. Er habe dem „Ho Chi Minh“-Geschrei schon damals nichts abgewinnen können. „Ich habe es zutiefst abgelehnt, Porträts von Che Guevara, Fidel Castro oder anderen Arschlöchern herumzutragen, die für mich schon damals Massenmörder waren und nichts für Menschenrechte übrig hatten“, kann sich der heute 79-Jährige noch immer in Rage reden, wenn es um seine Sicht der Dinge geht.
Er und seine A.P.O.-Mitstreiter hätten eine Veranlassung gehabt, Kiesinger an diesem Apriltag des Jahres 1968 gegenüberzutreten – „eine Veranlassung, die bis in die Kriegszeit in Biberach zurückreicht“, sagt Martin Heilig. Geboren 1938, erlebt er als Sechsjähriger am 12. April 1945 den Bombenangriff auf seine Heimatstadt mit. Der Vater ist katholischer Mesner, der Keller ihres Wohnhauses ist der Luftschutzkeller für die Menschen in der Altstadt. Der kleine Martin sieht tote Menschen, aufgerissene Körper mit klaffenden, blutenden Wunden, hört den Einschlag der Bomben. „Den Knall habe ich noch heute im Ohr. Ich war traumatisiert und hatte keinen Psychologen, der mir die Hand hielt.“
Auf die Kriegszeit folgt die Nachkriegszeit, in der sich autoritäre Strukturen und gesellschaftliche Enge nahtlos fortsetzen. „Wir Kinder machten die Stadt zum Abenteuerspielplatz und trafen auf alte, verbitterte Männer mit Kriegserfahrungen, auf die unser Spiel provozierend gewirkt haben muss“, sagt Heilig. „Sie beschimpften uns und schlugen mit ihren Stöcken auf uns ein.“In der Schule seien „blutige Exzesse“von Lehrerseite an der Tagesordnung gewesen. Die Episode, als Martin Heilig in der ersten Klasse aus der Schule davonrennt, nachdem die Lehrerin versucht hatte, ihm das Einmaleins „einzuprügeln“, wird zum Stadtgespräch. Das hatte zuvor noch keiner gewagt.
Zu Hause ist es nicht viel besser. Der Vater, unter anderem auch ein talentierter Maler, weckt in seinem Sohn Martin zwar die Liebe zur Kunst, neigt aber „zu autoritären und gewalttätigen Auswüchsen“. Die älteste Schwester erhält noch mit 21 Jahren Ohrfeigen. „Ich habe als 14Jähriger zurückgeschlagen, als er mich verprügelt hat, danach hat er mich in Ruhe gelassen“, sagt Martin Heilig.
Den Ausbruch aus dieser gesellschaftlichen Enge sucht die aufbegehrende
Biberacher Jugend im Jazzkeller, der sich ab den 50er-Jahren in der Pflugmälze etabliert, nur einen Steinwurf vom Haus der Heiligs am Kirchplatz entfernt. Neben der Musik stehen erste sexuelle Erfahrungen und das Sich-BewusstWerden der eigenen Kreativität und Macht im Mittelpunkt.
„Das war die Keimzelle unserer späteren A.P.O.“, sagt Heilig. Diese schloss sich offiziell Mitte März 1968 zusammen, nachdem Martin Heilig, Ekke Leupolz und einige andere eine NPD-Wahlversammlung in der Biberacher Gigelberghalle durch „Nazis raus!“und andere Zwischenrufe gesprengt hatten.
Nun also steht Kiesinger, der als NSDAP-Mitglied im Dritten Reich Karriere gemacht hat, und der Heilig, Leupolz und ihren Mitstreitern als Vertreter des engstirnigen Nachkriegsdeutschlands gilt, mitten auf dem Biberacher Marktplatz. „Du als das Opfer bist plötzlich konfrontiert mit diesem Mann, der all das unterstützt hat“, sagt Heilig. „Ich stehe der personifizierten Macht und Kraft gegenüber. Und da soll ich meinen Aufschrei der Empörung unterdrücken und mich korrekt benehmen?“
Die Kiesinger-Kundgebung zu sprengen, wie Wochen zuvor die NPD-Versammlung, sei jedoch nie das Ziel der jungen Demonstranten gewesen, sagt Heilig. „Uns ging es um ein Stück Polittheater, um den inszenierten Widerstand.“Schon Tage zuvor hätten sich die A.P.O.-Mitglieder in ihrem Treffpunkt in der Biberacher Jugendherberge auf dem Mittelberg überlegt, mit welchen Ideen sie Kiesinger und seinen Ausführungen gegenübertreten könnten. „Wir wollten ihn in seinen gewohnten Erwartungen überraschen“, sagt Heilig.
In Anlehnung an frühere Passionsspiele auf dem Marktplatz und den aktuellen Bezug zum Vietnamkrieg sei die Idee entstanden, rote Holzkreuze mitzuführen. Ekke Leupolz dichtet die passenden Textzeilen dazu: „Maikäfer flieg, in Vietnam ist Krieg, der Völkermord geht weiter, die Deutschen wählen heiter, unsere CDU.“
Als sich die paar Dutzend jungen Leute in die Menge mischen, werden die Mädchen der Gruppe laut Heilig von einigen Umstehenden als „Schlampen“und „Nutten“begrüßt. „Die waren schon darauf vorbereitet
und verteilten Klopapier, das sie zuvor mit ,CDU‘ beschriftet hatten“, erzählt er.
Der Anfang der Kundgebung verläuft jedoch nicht im Sinne der Demonstranten. „Kiesinger las unsere Transparente, griff das in seiner Rede auf und zerpflückte es. Er gefiel sich darin, uns vorzuführen“, meint Heilig. Zusammen mit Ekke Leupolz steht er in der Nähe des Podiums. „Ich habe zu Ekke gesagt: So geht das nicht weiter, der führt uns vor.“– „Was soll ich denn tun?“, habe Leupolz hilfesuchend geantwortet. „Manipulation!“, schreit Heilig kurzerhand mitten in die Kanzlerrede, worauf Kiesinger kurz den Faden verliert. „Kiesinger – Bauernfänger!“hallt es, zunächst verhalten, dann anschwellend, aus der Gruppe der jungen Leute. „Das hörte nicht mehr auf und Kiesinger geriet immer mehr aus der Fassung. Er, der bis dahin nur ausgeteilt hatte, bekam plötzlich Gegenwind“, sagt Heilig. „Je mehr ich Geschrei dieser Art höre“, ruft Kiesinger ins Mikrofon, „desto deutlicher wird mir, wie notwendig es ist, in unserem Lande für Ordnung zu sorgen!“Die Fernsehkameras zeichnen diese Sequenz auf – sie ist in einer ARD-Dokumentation über Kiesinger und auch in Bernd Eichingers Spielfim „Der Baader Meinhof Komplex“enthalten und setzt der Biberacher A.P.O. damit ein kleines Denkmal.
Als Kiesinger die Bürger auf dem Marktplatz auffordert, dafür zu sorgen, „dass die Schreier vom Platz kommen“, gerät die Lage kurzfristig außer Kontrolle. Das „ ... aber bitte ohne Gewalt“, das der Kanzler hinterherschiebt, als ihm die Tragweite seiner Aufforderung bewusst wird, geht im entstehenden Getümmel unter. „Die haben unsere Holzkreuze runtergerissen und zerbrochen“, schildert Heilig. „Die“, das sind nicht etwa die Polizisten, die auch auf dem Marktplatz sind, sondern einige der Bürger, die sich von Kiesingers Aufforderung angesprochen fühlen. „Sie haben unsere Transparente zerrissen – mit einem Stück davon würgten sie Ekke – und einigen unserer Mädchen wurde mit der Faust in den Unterleib geschlagen“, schildert Heilig seine Beobachtungen. Sie selbst seien friedlich geblieben. „Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn wir zurückgeschlagen hätten.“
Kiesinger setzt danach seine Kundgebung zwar fort, die jungen Demonstranten sind dennoch zufrieden. „Unser inszenierter Widerstand hat gegriffen. Kiesinger war nicht mehr der Gleiche wie zuvor.“Einige Tage später muss Kiesinger eine Wahlkampfveranstaltung in Heidelberg nach Protesten abbrechen.
Dass die Biberacher A.P.O. ihre kurze, große Zeit damit schon fast hinter sich hat, ahnen die Beteiligten in diesem Moment noch nicht. Leupolz und einige andere sorgen 1969 mit der Schülerzeitung „Venceremos“, die die Zeichnung eines aufgerichteten Penis ziert, kurzzeitig nochmals für Schlagzeilen: Im sogenannten „Pornoprozess“vor dem Biberacher Amtsgericht werden sie, begleitet von Demonstrationen, Anfang 1970 aber freigesprochen.
Leupolz geht nach München, um wieder zu studieren, er radikalisiert sich. „Das, was uns anfangs auszeichnete, das Lebendige, das Einfallsreiche, war weg. Ekke wurde sau-arrogant und wollte einen auf Theorie machen“, sagt Heilig heute. Auch den Kontakt zur RAF habe Leupolz gesucht, „aber die wollten ihn nicht“, meint Heilig spöttisch. Erst kurz vor Leupolz’ Tod 2002 sprechen sich beide aus.
Heilig verwirklicht sich ab den späten 1960er-Jahren stärker künstlerisch. Mit seinem „Schmier-Festival“in Biberach sorgt er für Schlagzeilen. Unter dem Künstlernamen „Sanctus“entwickelt er fortan einen eigenen Stil, eine Synthese aus Plastik und Malerei, die er als „AnaKunst“bezeichnet.
Derzeit ist Martin Heilig dabei, seine Erinnerungen an die Zeit der A.P.O. aufzuschreiben. „Ich merke, dass das Ganze eine historische Aufwertung erfährt“, sagt er, der die Deutungshoheit über die Geschehnisse in Biberach nicht anderen überlassen will, denn: „Ich war ja dabei. Und ich lebe noch.“Die Zeit um 1968 sei geprägt gewesen von einem unglaublichen Lebensgefühl. „Alles schien möglich. Das gab es seither so nicht wieder“, sagt Heilig. Die Anstöße und Aufbrüche, die er und seine Mitstreiter damals gegeben hätten, brauche es heute wieder.
An der Stelle auf dem Biberacher Marktplatz, an der im April 1968 Kiesinger am Rednerpult stand, steht seit dem Jahr 2000 das Esel-Denkmal des Künstlers Peter Lenk. Martin Heilig muss darüber schmunzeln: „Das ist Ironie des Schicksals und eine gewisse Genugtuung.“
„Ich habe es zutiefst abgelehnt, Porträts von Che Guevara, Fidel Castro oder anderen Arschlöchern herumzutragen, die für mich schon damals Massenmörder waren.“
„Und da soll ich meinen Aufschrei der Empörung unterdrücken und mich korrekt benehmen?“
„Ich merke im Moment, dass das Ganze eine historische Aufwertung erfährt.“