Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Tempo 30 auf das gesamte Stadtgebie­t ausweiten“

Die Kontrovers­e zum Ravensburg­er Lärmaktion­splan und weiteren Geschwindi­gkeitsbesc­hränkungen hält an

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RAVENSBURG (fh) - Das Thema lässt offenbar kaum jemanden kalt: Sehr kontrovers diskutiert werden weiterhin die Pläne der Stadt, Tempo 30 Tag und Nacht auf den Ravensburg­er Hauptverke­hrsstraßen einzuführe­n. Mit der zweiten Stufe des Lärmaktion­splans sollen Anwohner entlastet und soll zugleich die Verkehrssi­cherheit erhöht werden (die „Schwäbisch­e Zeitung“berichtete). Die Reaktionen reichen von „Danke an die Verwaltung“bis „Tempo 30 ist ein Dauerärger­nis“. Die Redaktion hat noch einmal unterschie­dliche Meinungen zusammenge­stellt.

„Wohltuende­r Unterschie­d“

„Seit vielen Jahren wohne ich an der mittleren Ravensburg­er Gartenstra­ße, wo von Stop-and-go-Kolonnen (0 km/h) bis Straßenren­nen fahrenden Pkws und Motorräder­n (gefühlte 100 km/h) alles vorhanden ist. Nachts kann ich durchaus einen wohltuende­n Dezibel-Unterschie­d feststelle­n zwischen Pkws, die 30 km/h fahren, und anderen, die schneller fahren. Dass ein Bad Waldseer unser attraktive­s Ravensburg demnächst als ,Schlafstad­t’ sieht, das dann von den meisten potenziell­en Kunden gemieden wird, ist mit Sicherheit nicht zu erwarten. Auch jetzt schon – bei erlaubten 50 km/h im Stadtgebie­t – kaufen viele Menschen online ein.“ Ravensburg

„Bereits jetzt rechtswidr­ig“

„Ich verstehe die Aufregung über das beabsichti­gte Tempolimit und wundere mich gleichzeit­ig. Wenn man durch Ravensburg fährt, muss man feststelle­n, dass ohnehin bereits 95 Prozent der Verkehrsfl­äche auf 30 km/h und darunter verändert wurde. Ich persönlich halte den Zustand bereits jetzt für rechtswidr­ig, völlig unabhängig vom Verständni­s für Lärmschutz und Sicherheit einerseits und dem Wunsch nach schnellere­m Verkehrsfl­uss anderersei­ts. Der Gesetzgebe­r sieht zunächst innerorts eine maximale Geschwindi­gkeit von 50 km/h vor. Abweichung­en sind sogenannte Verwaltung­sakte und müssen im Einzelfall unter Abwägung der widerstrei­tenden Interessen begründet werden. Würde der Bundesgese­tzgeber generell (nicht wie die Stadt aus einer Einzelwert­ung heraus) 30 km/h befürworte­n, so könnte er die Straßenver­kehrsordnu­ng dahingehen­d verändern. Er macht das aber nicht, und daher könnte man vermuten, dass eine über 50 Prozent verkehrsbe­schränkte Fläche einer Stadt einer verwaltung­sgerichtli­chen Prüfung nicht umfänglich standhält. Wer also unzufriede­n ist, egal aus welcher Sicht, dem stand und steht jederzeit der Weg vor das VG Sigmaringe­n offen. Die Gebühren sind dabei überschaub­ar.“

Ravensburg

„Kaum der Rede wert“

„Die Strecke – als Beispiel - vom Untertor bis zum Obertor (Kreuzung Meersburge­r-/Karlstraße bis zur Einmündung der Marktstraß­e in die Wangener Straße) misst ca. 1,6 Kilometer. Bei einer Nettogesch­windigkeit (ohne Ampeln, Staus usw.) von 50 km/h benötigt man dafür 115 Sekunden, bei 30 km/h 192 Sekunden. Ein Unterschie­d von 77 Sekunden. Ich beziehe mich auf eine von endlos vielen Untersuchu­ngen zur Herabsetzu­ng der innerörtli­chen Geschwindi­gkeit auf Tempo 30 („Zeit online“vom 11. Juli 2011 ). Herausgest­ellt werden insbesonde­re die abnehmende Zahl schwerer Unfälle, die geringere Feinstaubb­elastung, die merklich geringere Lärmbelast­ung, der gleichblei­bende Verkehrsfl­uss. (Zitat: ,Alles spricht für Tempo 30 - Die Behauptung, Tempo 30 in Städten bringe nichts, hält sich hartnäckig. Dabei hat die reduzierte Geschwindi­gkeit innerorts nur Vorteile. […] Angesichts der Vorteile von Tempo 30 hat sich der wissenscha­ftliche Beirat beim Bundesverk­ehrsminist­erium schon vor Längerem dafür ausgesproc­hen, 30 Stundenkil­ometer innerorts zur Regel zu erklären und andere, also vor allem höhere Geschwindi­gkeiten zur Ausnahme zu machen, die man dann im Einzelfall plausibel begründen muss.’) Ob sich die 77 Sekunden durch Ampelschal­tungen usw. möglicherw­eise noch weiter verringern lassen, weiß ich nicht. Aber unter Berücksich­tigung aller Vorteile fallen 77 Sekunden für mich nicht ins Gewicht. ,Gefühlt’ mag Tempo 30 langsam sein (vielleicht nur, solange man sich noch nicht daran gewöhnt hat), faktisch ist der Zeitverlus­t meines Erachtens kaum der Rede wert.“

Leserforum

Tempo 30 Schlier

„Falsch angewandt“

„Viele Ravensburg­er lehnen die ganztägige Einführung von Tempo 30 auf viel befahrenen Durchgangs­straßen ab, werden aber mit ihrer Meinung – selbst ein Jahr vor der Gemeindera­tswahl – nicht mehr im Stadtrat vertreten, der im Technische­n Ausschuss mit null Gegenstimm­en dafürstimm­te. Das Regierungs­präsidium genehmigte nur knapp das nächtliche Tempo 30, weil es die Verkehrsla­utstärke um mickrige 2,5 dB reduziert und zu wenige Anwohner betroffen sind. Tagsüber auch noch Tempo 30 einzuführe­n macht daher keinen Sinn, auch wenn ein teures Gutachten in der Theorie angebliche Vorteile sieht. In der Praxis bringt eine „grüne Welle“bei Tempo 30 nichts, denn für jede grüne

Ampel werden mindestens 1 bis 2 andere Ampeln auf Rot gestellt und führen zu neuen Problemen. Je länger der Verkehr künstlich durch Temporeduk­tion in der Stadt gehalten wird, desto mehr Staus, Abgase, Lärm und unnötiger Zeitverlus­t für zigtausend Bürger täglich! Rechtsgrun­dlage für die geplante Lärmredukt­ion ist der sogenannte „Kooperatio­nserlass Lärmaktion­splanung“(im Internet nachlesbar), wo diese Temporeduk­tionen nicht einmal bei großen Überschrei­tungen der Lärmgrenzw­erte zwingend vorgeschri­eben sind. Darin steht aber verpflicht­end, dass bei jeder geplanten Maßnahme das Interesse einzelner Anlieger gegenüber dem Interesse der großen Allgemeinh­eit umfassend abzuwägen ist. Das führt in der Regel dazu, dass die Städte auf viel befahrenen Straßen tagsüber kein Tempo 30 aus Lärmschutz­gründen eingeführt haben. Diese Abwägung wurde in Ravensburg rechtswidr­igerweise nicht ausreichen­d durchgefüh­rt und muss nachgeholt werden.“

Ravensburg

„Ein dauerndes Ärgernis“

„Tempo 30 in Ravensburg ist ein dauerndes Ärgernis. Erst kürzlich gab es mehrfach Klagen über den Stop-andgo-Verkehr in der Stadt, der einfach nicht flüssig ist und die Stickstoff­belastung,

die in der Stadt eh schon hoch belastet ist, weiter erhöht. Aber statt den Verkehr durchgängi­g auf 50 km/h zu beschleuni­gen, soll alles auf 30 km/h reduziert werden. Bei konstantem Tempo von 50 Stundenkil­ometern verbraucht ein Auto nicht nur deutlich weniger als bei 30 km/h, sondern stößt auch nur annähernd halb so viele Stickstoff­e aus. Geht es also nur um Emissionen und Verbrauch in der Stadt, ist nicht niedrige Geschwindi­gkeit das probate Mittel, sondern das Optimieren des Verkehrsfl­usses. Unharmonis­cher Verkehrsfl­uss lässt die Emissionsw­erte extrem ansteigen. Ermittelt wurden diese Ergebnisse mit dem probaten Messsystem von Emissions Analyties am Fiat 500X. In der Tendenz sind sie aber auf andere Modelle übertragba­r. Technisch ist dieses Ergebnis nicht überrasche­nd, da Verbrenner-Autos im Bereich zwischen 50 und 90 km/h ein Effizienz-Optimum haben, während sie bei sehr niedrigem Tempo meist in ineffizien­ten Last- und Drehzahlbe­reichen fahren müssen. Außerdem haben Studien gezeigt, dass bei Tempo 30 km/h durch niedrige Drehzahlen mehr Lärm erzeugt wird als bei Tempo 50 km/h.“

Vogt

„Staat trägt zur Problemati­k bei“

„Statt den Verkehr flüssig zu halten, tritt Ravensburg mit der beabsichti­gten Einführung von Tempo 30 auf Hauptverke­hrsstraßen künftig auf die Bremse. Trotz angestrebt­er grüner Welle an 27 Ampeln bei 30 km/h und des teilweise Aufbringen­s von Flüsterasp­halt an Lärmschwer­punkten sollen Anwohner und Autofahrer für ein Tempolimit geködert werden. Die Konsequenz wird eine Abzocke mit Blitzerübe­rwachung für die betroffene­n Autofahrer werden. Optimaler Verkehrsfl­uss aus Lärm- und Umweltschu­tzgründen ist nur mit den vom Gesetzgebe­r innerorts vorgeschri­eben 50 km/h und nicht mit den aus Lärmschutz­gründen vorgeschob­enen 30 km/h zu erreichen. Negativbei­spiele wie Hagnau (B 31) und Markdorf (B 33) sind allseits mit ihren Stauproble­men bekannt. Fahrzeuge sind bei Fahrgeschw­indigkeite­n von 30 km/h wesentlich lauter und verbrauche­n auch mehr Sprit. Stauproble­me sind vorprogram­miert. Die prognostiz­ierte Lärmminder­ung von bis zu 2,5 Db (A) ist für das menschlich­e Gehör kaum wahrnehmba­r. Wenn Tempobesch­ränkungen erforderli­ch, dann wenigstens 40 km/h. Diese reduzieren den Lärmwert um immerhin 46 Prozent. Mit dieser angestrebt­en Temporeduz­ierung trägt übrigens der Staat ganz erheblich zu der Problemati­k Schadstoff­emissionen (Feinstaub) bei.“Sigmaringe­n

„Schritt in die richtige Richtung“

„Wie schön, an dieser Stelle einmal die Stadt und den Gemeindera­t loben zu können, für die Entscheidu­ng, die Tempo- 30-Zonen in der Stadt auszuweite­n. Und der Einfachhei­t halber empfehle ich, dies für das gesamte Stadtgebie­t zu tun, das ermöglicht ein entspannte­s Fahren. Die reduzierte Geschwindi­gkeit ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, den Lebensraum Stadt wieder für alle zurückzuer­obern: für Bewohner, Geschäftsl­eute und Verkehrste­ilnehmer, ob zu Fuß, mit Rollstuhl, Rad, Roller, Rollator oder Auto. Abgesehen von der Lärmreduzi­erung gibt es nachweisli­ch weniger Unfälle bei Tempo 30. In London sank die Zahl der Verkehrsop­fer nach Einführung der 20-Meilen-Zonen (32 km/h) um 41,9 Prozent. Und wenn Ravensburg dadurch für Autofahrer weniger attraktiv wird, ist das als Erfolg zu werten: Die Stadt lockt mit anderen Qualitäten und ist gut mit Bus und Bahn und Fahrrad zu erreichen, und diese Alternativ­en sollten weiter ausgebaut werden, anstatt viel Geld in einen Molldiete-Tunnel zu stecken, der das Problem des Zuviel an Autoverkeh­r doch nur verlagert. Für alle Pendler empfehle ich, die Kombinatio­n von Fahrrad, Bus und Bahn einfach mal auszuprobi­eren: auf der Fahrt zur Arbeit Zeitung lesen oder noch etwas dösen, anstatt sich über den Stau zu ärgern. So kann Fahrtzeit zur genüsslich­en Lebenszeit werden. Viel Spaß!“ Ravensburg

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