Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Man ist da oben wie ein Zombie unterwegs“
Reinhold Messner über die Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffflasche vor 40 Jahren
Es war ein historischer Tag und bis heute eine der bedeutendsten Leistungen in der Geschichte des Alpinismus. Am 8. Mai 1978 bestiegen Reinhold Messner und Peter Habeler als erste Menschen den Mount Everest ohne Sauerstoffflasche und Atemgerät. Im Interview mit Florian Kinast spricht Messner über das einst für kaum möglich gehaltene Wagnis und die damaligen Warnungen vor irreparablen Hirnschäden, über das Gefühl, auf knapp 9000 Metern Luft zu holen und den heutigen Pistentourismus am Everest – und warum er mit seinen bald 74 Jahren in den Bergen nicht mehr die großen Höhen sucht, sondern die Einsamkeit.
Herr Messner, bewerten Sie selbst den 8. Mai 1978 als Ihren größten alpinistischen Triumph?
Nein. Ein Triumph war es nur nach außen. Es war eine Geschichte, die viel Aufmerksamkeit auf sich zog, vor allem dank der vielen Kritiker und Skeptiker im Vorfeld. Wie so oft in meinem Leben hatte ich auch hier viel Gegenwind erfahren, Ärzte, Physiologen, auch Bergsteiger selbst hatten prophezeit, so etwas dürfe und könne man nicht machen. Es gab sogar Berechnungen, dass man auf über 8500 Meter ohne künstlichen Sauerstoff nicht überleben könne. Aber offensichtlich hat man damals nicht so genau gerechnet.
Hat Sie das vorher nicht beunruhigt? Es gab ja Warnungen vor irreparablen geistigen Schäden, wenn das Hirn über einen längeren Zeitraum in so einer Höhe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird.
Ich war schon davor auf Achttausendern ohne zusätzlichen Sauerstoff. Nur war der Everest nochmal 600, 700 Meter höher. Ich selbst hatte nicht gehadert, Peter Habeler hatte eher Befürchtungen, ob wir da nicht zu viel riskieren. Für mich war aber klar: Wenn es nicht mehr weitergeht, dann drehen wir eben um. Wie bei jeder anderen Bergtour auch. Niemand will doch da oben umkommen. Niemand sagt: Ich gehe so lang hinauf, bis ich oben bin oder sterbe. Für so ein heroisches Getue war ich nie zu haben. Dafür spricht allein der Fakt, dass ich an 8000ern 13-mal in meinem Leben umgedreht bin.
Wem wollten Sie denn etwas beweisen mit der Everest-Besteigung? Sich selbst oder Ihren Kritikern?
Schauen Sie, das ganze Bergsteigen hatte eine bestimmte Entwicklung genommen. 1968 kam erstmals das Thema Verzichtsalpinismus auf, der amerikanische und damals weltbeste Kletterer Royal Robbins hatte einen Artikel geschrieben mit dem Titel: „Clean Climbing.“Sauberes Klettern. Ohne das zu wissen, hatte auch ich damals in Südtirol einen Bericht verfasst, der hieß „Mord am Unmöglichen“. Darin habe ich behauptet, wenn wir beim Bergsteigen technische Hilfsmittel einsetzen, dann machen wir den Alpinismus obsolet. Dann gibt es keine Weiterentwicklung. Den Alpinismus zeichnete ja immer aus, dass junge Kletterer das, was die Erwachsenen als unmöglich erklärt hatten, möglich machten.
Es macht doch aber einen Unterschied, ob ich in den Dolomiten auf Hilfsmittel verzichte oder im Himalaya. In Regionen, wo ab 7500 Meter die sogenannte Todeszone beginnt.
Dieser Verzichtsalpinismus bezog sich zunächst auch nur auf die Alpen oder Amerika. Aber 1975 gelang es Peter Habeler und mir dann, mit dem Hidden Peak einen Achttausender ohne alles zu ersteigen. Ohne Maske, ohne Hochlager, ohne Fixseile. Das war Verzichtsalpinismus in Reinkultur. Danach kamen die Diskussionen auf, ob das auch am Everest möglich ist, weshalb ich gesagt habe: Wir reden nicht drüber, wir probieren das aus. Als wir es dann 1978 schafften, war der Verzichtsalpinismus auf dem Höhepunkt.
Was war damals während des Aufstiegs das Schlimmste?
Der Gipfeltag am 8. Mai. Wir wussten, dieser Tag ist unsere letzte Chance. Es war eine schlimme, stürmische Nacht in unserem Zelt, wir konnten kaum schlafen. Der Sturm drückte auf die Planen und Nähte, wir dachten, das Zelt zerreißt gleich. Wir mussten aber noch den Tagesanbruch abwarten, wir hatten ja kein Fixseil, deshalb konnten wir in der Dunkelheit nicht raus. Mit dem ersten Sonnenstrahl brachen wir auf.
Und der Sturm?
Manchmal gab es kleine Pausen. Es hatte so 30, 40 Grad minus, wir mussten uns immer wieder hinknien, um nicht vom Grad heruntergeweht zu werden. Wir mussten alle Kraft und Energie sparen, um doch den letzten Schritt machen zu können.
Und dann waren Sie oben. Verspürten Sie Euphorie? Oder mehr Genugtuung oder Erleichterung?
Ich würde sagen, es war eine seelische Erschütterung. Peter hat eine sehr starke emotionale Reaktion gezeigt, an mein Gefühl kann ich mich weniger erinnern, es war mehr ein Aufatmen. Mir war klar, auch wenn man beim Bergsteigen erst erfolgreich ist, wenn man wieder unten ist: Der Abstieg wird kein Problem mehr, der Weg nach unten war nicht mehr schwer, und auch der Sturm ließ nach. Ich denke, es war weniger Euphorie als vielmehr Dankbarkeit, dass es gelungen war. Ich habe dann noch ein paar Bilder gemacht, um die Gipfelbesteigung zu dokumentieren, dann bin ich eher geistig abwesend wieder hinuntergetapst.
Schön, dass Sie gerade von „Aufatmen“sprechen. Wie fühlt es sich denn an, wenn man auf knapp 9000 Meter Luft holen möchte?
Sie schnaufen wie ein rennender Hund. Man hyperventiliert. Man kann immer nur ein paar Schritte nach oben machen, dann muss man sich hinkauern, am besten über dem Pickel, um den Brustkorb freizumachen. Man schnauft ganz schnell, macht 50 Atemzüge und geht dann wieder zwei Schritte. Es ist eine unendlich große Mühe, es braucht auch die letzten Willensanstrengungen, denn nicht nur die Beine haben keine Kraft mehr. Auch das Gehirn wird nicht mehr voll durchblutet, das schwächt auch den Willen und die Beurteilungsfähigkeit. Kurzum, man ist da oben auch ein bisschen wie ein Zombie unterwegs.
Sie sind danach nie mehr mit Atemmaske auf einen Achttausender?
Nein. Als ich den Everest geschafft hatte, war mir klar, es ist auch ohne möglich. Anders ging es für mich nicht mehr.
40 Jahre später ist der Everest nun zu einer Destination für den Massentourismus geworden. Ist das noch der Berg, den Sie kennengelernt haben?
Der Everest ist immer noch der Everest, nur wird er zunehmend verändert. Der Münchner 2018 hat heute ein anderes Bild vom Everest im Kopf als der Münchner 1953, als Hillary hinaufgestiegen ist. Der Mensch hat den Berg zu einem Konsumobjekt gemacht. Man kann in einem Reisebüro eine Passage kaufen zum Basislager, zum Gipfel und, wenn es gut geht, auch wieder zurück.
Genau das Gegenteil vom Verzichtsalpinismus.
Ja, ich nenne das Pistenalpinismus. Die Veranstalter lassen in monatelanger Straßenarbeit von den Sherpas eine Piste vom Basislager bis zum Gipfel bauen. Mit Sauerstoffdepots, mit Ärzten und Köchen in den Lagern, mit Seilen, damit man sich nicht verläuft, mit Brücken über Spalten, mit Leitern an senkrechten Stellen. Allein die Präparierung verschlingt Millionen Euro und muss alle Jahre neu gemacht werden, da das Eis am Everest permanent in Bewegung ist. Und dann werden die Klienten an dieser Piste hochgebracht.
Die Debatten gibt es doch in den Alpen auch, ob man abweisende und lebensfeindliche Felswände und Gipfel dem gemeinen Bergsteiger zugänglich machen darf oder soll.
Schauen Sie sich die Eiger-Nordwand an. Das größte bergsteigerische Problem der 1930er-Jahre. Würde man dort, was ich nie hoffe, einen Klettersteig errichten, dann könnte ich mit meiner 17-jährigen Tochter am Mittag einsteigen und wäre am Nachmittag wieder zurück auf der Hütte. Was wäre die Nordwand dann?
Ein Abenteuerspielplatz?
Ja, oder ein Turnübungsplatz. Aber kein herausfordernder Berg mehr. Den Everest hat man jedenfalls zu einer Attrappe gemacht. Klar ist aber auch, wenn ein junger Kletterer neue Routen sucht und findet und in Eigenregie hochsteigt, dann ist der Everest immer noch der Everest.
Wie war und ist Ihr Empfinden für den Everest? Ist das eine enge Beziehung? Oder gibt es Berge, die Sie mehr lieben und schätzen?
Ich mag all die Berge, um die man herum eine Geschichte erzählen kann. Das Geschichtenerzählen ist bei einem Berg mindestens so wichtig wie der Berg selbst. Und der Everest ist ein Berg voller Geschichten. Die gescheiterten Versuche in den 1920erJahren, die Erstbesteigung von Hillary 1953, die Überschreitung von Dyhrenfurth 1963. All diese Geschichten laufen bei mir ab, wenn ich den Everest sehe, deswegen ist es ein besonderer Berg.
Sie werden in diesem Jahr 74. Suchen Sie noch Herausforderungen in den Bergen oder sind Sie mehr ein Genusswanderer geworden?
Kein Genusswanderer, aber ein neugieriger, horizontsüchtiger Wanderer. Ein bisschen klettere ich noch, sehr bescheiden aber, mein Sohn nimmt mich manchmal mit. Der klettert Dinge, die ich nie klettern konnte. Was die jungen Leute heute klettern, ist eh viel schwieriger als das, was wir in den 1960er-Jahren zu meiner Zeit geklettert haben. Ich vermisse das aber nicht. Ich ziehe mich immer mehr als Bergsteiger in die Einsamkeit der Berge zurück, ich spüre auch eine Notwendigkeit, das zu tun. Die Zeiten, die ich früher auf meinen mehr als 100 Expeditionen verbracht habe, nutze ich jetzt lieber als Solitär oder manchmal auch mit Freunden im Gebirge. Das kann in Nepal sein, in Pakistan oder bei mir in Südtirol. Es gibt so viele Wege, die von mir noch nicht gegangen sind.
Es kommt Ihnen also nicht mehr auf die Höhe an, sondern aufs Gespür?
Genau. Ich werde auch weiterhin reisen und habe noch einige Geschichten im Kopf, die ich gerne umsetzen würde. Als Storyteller, Erzähler, Filmemacher. Das ist meine letzte Aufgabe, die ich mir gestellt habe.