Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Labyrinthische Innerlichkeit
Peter Stamm las in der Buchhandlung Ravensbuch aus seinem neuen Roman
RAVENSBURG - Vor anderthalb Jahren hatte Peter Stamm zur Vorstellung seines 2016 erschienenen Buches „Weit über das Land“bei der Ravensburger Buchhandlung Ravensbuch Station gemacht, und damals beteiligten sich viele Abiturientinnen und Schüler an der nachfolgenden Diskussion, denn Stamms Roman „Agnes“, mit dem er 1993 bekannt wurde, war inzwischen zur Schullektüre geworden. Am Dienstag las er aus seinem neuen Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“, der mit seinem Erfolgsroman einiges gemeinsam hat.
Der 1963 geborene Schweizer Schriftsteller ist kein Senkrechtstarter im Literaturbetrieb und auch keiner, der nur in der Schweiz zu Hause ist, wo er seit 2003 in Winterthur lebt. Längere Aufenthalte in New York, in Paris und in Skandinavien haben ihn ebenso geprägt wie einige Semester Psychologie und Psychopathologie, Praktika in der Psychiatrie sowie sein Brotberuf Journalist für die Neue Zürcher Zeitung oder den Tages-Anzeiger.
Seit 2008 erhielt er fast jedes Jahr eine Auszeichnung oder einen Preis, 2018 den Solothurner Literaturpreis. „Ich war so viel unterwegs mit Agnes“, erzählt Stamm vor seiner Lesung. Die Schülerinnen und Schüler hätten ihn oft nach einer Fortsetzung gefragt, und in gewisser Weise sei der neue Roman – mit 160 Seiten vielleicht eher eine Novelle – eine Art von Fortsetzung aus anderer Sicht.
Scheinbar einfach und von der Entwicklung her dann doch verwirrend komplex ist die Geschichte um zwei Figuren in zwei Zeiten: der ältere Mann und glücklose Autor Christoph lernt in Stockholm die 20 Jahre jüngere Schauspielerin Magdalena kennen und „erkennt“in ihr seine frühere Geliebte Lena sowie in ihrem Freund sich selbst als jungen Mann wieder. Die jetzige Lena jedoch verweigert diese Zuschreibung. Die Erinnerungen von Christoph werden in einen Kontext von Begegnungen verwoben, deren Szenerien Peter Stamm mal mit Symbolik auflädt wie die Szene auf einem alten Friedhof in einem Kreis alter Bäume - oder in angedeuteten Landschaftsskizzen oder Jahreszeitbildern beschreibt.
Eher Dürrenmatt als Frisch
Es geht jedoch vor allem um die Liebe, mehr um die geistige und seelische als um die körperliche, zumindest nicht in diesen Textstellen. Einmal nennt Stamm oder sein jüngeres Alter Ego Chris die „Liebe auf den ersten Blick“lakonisch einen „Schöpfungsmythos“. So handfest und gleichzeitig zurückhaltend, wie der Autor wirkt, so korrekt und irgendwie leidenschaftslos sind sein Stil und das gleichmäßige Vorlesen. Dennoch blitzt manchmal ein hintergründiger Humor auf, etwa wenn die Geliebte sich von einem anderen Mann für den Sex bezahlen lässt und der eifersüchtige Freund sich nach dem Preis erkundigt: „Das kann auch nur ein Schweizer fragen.“Meist aber ist er selbst ein Fragender, dem die selbstbewusste Frau – später nennt er sie „eine feministische Form von Agnes“– immer ein Stück voraus ist: „Wenn ein Mann mich nur jung und schön und unbeschwert fände, würde ich sofort davonlaufen“, sagt Lena einmal sehr richtig.
Im Gespräch mit dem Publikum gibt Stamm ein paar literarische Vorbilder preis – eher Dürrenmatt als Frisch und ganz sicher Camus, von dessen Epilog im Roman „Der Fremde“er sich zu dem Titel inspirieren ließ. Camus schreibt zwar „la tendre indifférence du monde“, meint also „zärtlich“und nicht „sanft“, aber das hätte zu Peter Stamm vielleicht nicht so gut gepasst.
Peter Stamm: „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“, Roman, S. Fischer, 2018, 160 Seiten, HC, 20 Euro.