Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Russische Lyrik, die unter die Haut geht
Leseabend mit Ossip Mandelstam in der Ravensburger Zehntscheuer
RAVENSBURG - Das kleine Fest großartiger russischer Dichtung hat am Dienstagabend einen erstaunlich lebendigen Austausch ermöglicht. Innerhalb des Bodenseefestivals und der Literaturreihe „Aufgeblättert“bilden Stadtbücherei, Zehntscheuer, Kulturamt Ravensburg und Buchhandlung „Anna Rahm mit Büchern unterwegs“den Rahmen. Ein hoch konzentriertes Gemisch.
Michael Borrasch erinnerte daran, dass Ralph Dutli 1998 das erste Mal in Ravensburg war. Seitdem sei er mindestens schon dreimal hier gewesen, ergänzte der Übersetzer, Essayist und Autor Ralph Dutli, der sich als Herausgeber der „Gesammelten Werke“Ossip Mandelstams und als engagierter Vermittler russischer Dichtung ausgezeichnet hat. Das Publikum in der Zehntscheuer verzauberte er mit seiner Sprechkunst, den frei rezitierten Kostproben der russischen Originale, die er selbst übersetzt hat, und den einfühlsamen Hinführungen.
Unter der Reihe tragischer Dichterschicksale jener Zeit ist Anna Achmatowa (1889 – 1966) eine Ausnahme. Sie hat die Stalinepoche überlebt. „Mit dem Strohhalm trinkst du meine Seele“hebt ein Gedicht von ihr an. Es fasst die Trennung vom Geliebten in leidenschaftliche Alltagsbilder. Unter den vielen berühmten russischen Schlaflosigkeitsgedichten hat die Achmatowa ein versöhnliches geschaffen. „Schöne du, meine Kriminelle… warum bist du mir so leicht?“, wundert sich die Dichterin. Ossip Mandelstam, 1891 in Warschau geboren und jüdischer Herkunft, starb 1938 in einem sowjetischen Lager bei Wladiwostok. Seine Witwe habe seine Gedichte auswendig gelernt, um das Werk zu retten, erzählte Ralph Dutli. In der Zehntscheuer las er aus den 2016 von ihm herausgegebenen Jugendgedichten „Mandelstam, Heidelberg“ein scheues Liebesgedicht und einen Lobpreis auf das Dichten. Der Vorname Ossip ist eine russische Form von Josef. Im biblischen Träumer und Traumdeuter spiegelt sich der Dichter. So bleiben von der Schwermut und bitteren Gegenwart nur der „Raum, die Sterne und der, der singt“. Der fröhliche, dem Leben zugewandte Mandelstam schrieb aber auch immer wieder im jüdischen Humor wurzelnde Scherzgedichte.
Die große Liebende Marina Zwetajewa, 1892 in Moskau geboren, endete nach bitterer Emigration 1941 in Moskau durch Selbsttötung. Neun ihrer Liebesgedichte sind Ossip Mandelstam gewidmet. „Wie schön sind wir zwei uns fremd“, dichtete sie. Eines ihrer 1923 geschaffenen „Magdalena“-Gedichte hat sie Jesus in den Mund gelegt. „Deine Wege will ich gar nicht wissen“, hieß es auf Deutsch. „Ich war nackt und du der Welle gleichend…warst mein Kleid.“
Mit seinen lang gedehnten Vokalen und stimmhaft vibrierenden Konsonanten ging das von Dutli gelesene Russisch unter die Haut und leuchtete unmittelbar ein. Auch der Bauerndichter Sergej Jessenin, 1895 geboren, nahm sich das Leben. Nach literarischen Erfolgen und politischer Enttäuschung habe er in zehn Jahren sein Leben im Rausch verbracht, sagte Dutli. Mit Joseph Brodsky, 1940 in Leningrad geboren, kam noch ein Dichter der jüngeren Generation zu Wort. Der Nichtstuerei und des Parasitentums verklagt, musste er emigrieren. 1987 bekam er den Nobelpreis. In einem Lebensrückblick von 1980 bekennt der Dichter: „Solange sie mir nicht das Maul mit Lehm vollschlagen, wird aus mir nichts als Dankbarkeit kommen.“